Dichterlesung mit Ghayath Al Madhoun
Gespräch 0Der palästinensische Dichter liest zwei seiner Texte im arabischen Original. Eine deutsche Übersetzung finden Sie weiter unten auf dieser Seite.
Gedichte von Ghayath Al Madhoun
Lebten wir in einer virtuellen Welt
Obwohl das Fenster virtuell ist, sind die Türen echt.
—Khaled Soliman Al Nassiry
1. Der Krieg ist zu Ende
Der Krieg ist zu Ende, aber in meinem Kopf fallen die Bomben noch immer.
Lebten wir in einer virtuellen Welt,
hätte ich das Fenster, das auf dein Haus blickt, mit einer elektronischen Zeitung geputzt und die Plastikrose, die ich auf das Grab meines Bruders gelegt habe, wäre gewachsen.
Der Krieg ist zu Ende, und die Freunde, die auf den Markt gingen, um einen frischen Tod zu kaufen, wurden auf dem Weg getötet.
Lebten wir in einer virtuellen Welt,
hätte ich meine Freunde recycelt,
denn ich brauche gebrauchte Freunde.
Der Krieg ist zu Ende, und die Toten sind wohlbehalten zu ihren Familien zurückgekehrt. Die Märtyrer kehrten im Ganzen zu ihren Müttern zurück, die Mütter kehrten nach Hause zurück, die Häuser, die Straßen, die Moscheen, die Augen, die Füße, die Körperteile kehrten zu ihren Besitzern zurück. Die Finger kehrten zu den Händen zurück, die Ringe zu den Fingern, die Schulen zu den Kindern. Die Wäscheleinen kehrten zu den Balkonen zurück, die Verliebten zu den Dächern, mein Bruder kehrte zu meiner Mutter zurück, und ich bin nach Damaskus zurückgekehrt.
Lebten wir in einer virtuellen Welt,
würde ich vergessen, mich an den Krieg zu erinnern
und ich würde mich daran erinnern, ihn zu vergessen, wie die Toten
die Gesichtszüge des Generals vergessen
und wie die Märtyrer sich an den Weg nach Hause erinnern.
Der Krieg ist zu Ende, und alle, die ich kannte, sind tot, oder
Kriegsverbrecher oder tote Kriegsverbrecher.
Lebten wir in einer virtuellen Welt,
würde ich den Krieg ausschalten wie du den Fernseher.
Aber wir wurden in einer Hurenwelt geboren,
und wenn der Mensch in einer Hurenwelt geboren wird, verwandelt sich die
Zeit in eine Schreibmaschine,
und die Toten werden zu Gedichten.
Komödiantische Fußnote:
Das Genie Dantes liegt im Limbo verborgen. Denk mal darüber nach, dann begreifst du sofort, dass wir im ersten Kreis der Hölle leben.
(Schnitt)
* * *
2. Krieg
Ich habe versucht, dir den Krieg aus einer semitischen in eine indo-europäische Sprache zu übersetzen, und da wurdest du von Splittern getroffen. Ich habe versucht, dir zu helfen, da umzingelten uns die Nachrichten. Der Sicherheitsrat versuchte, uns intelligente Waffen zu schicken, doch sie wurden von den nur wenig intelligenten Sicherheitskräften
konfisziert. Wir beschimpften das Rote Kreuz, da protestierte
der Vatikan. Wir aßen das Fleisch von Hunden, deren Besitzer getötet worden waren, da protestierten die Umweltschützer. Wir wurden vor dem Ertrinken gerettet, da protestierte die europäische Rechte.
Wie soll ich dir erklären, wie sehr diese Welt den Schlägen magerer Hände gegen die dicken Wände der Gaskammern in den Vernichtungslagern gleicht, ohne dass du ein posttraumatisches Belastungstrauma bekommst? Wie soll ich dir den Unterschied zwischen Haussklaven und Feldsklaven erklären, ohne dass du Syrien und Surrealismus verwechselst? Wie soll ich dir in einem einzigen Gedicht sagen: Meine Freunde wurden unter Folter getötet, und du bist schöner als New York, ohne dass Lorca in seinem Grab lacht oder sich die Poesie von der Realität abtrennt?
Tragische Fußnote:
Das Problem dieser Welt ist nicht, dass ein Viertel der Weltbevölkerung zum Psychiater geht. Das Problem ist, dass der Rest nicht geht.
(Schnitt)
* * *
3. Schach
Als der Wind vorbeiwehte, fand er den Baum nicht, und die Axt blickte zu mir, während ich zwischen den Sprachen verloren war, ruhig wie der Waffenstillstand auf einem blauen Planeten festhängend, in einem weit entfernten Vorort der Milchstraße. Ich sah, wie eine Gazelle einen Wolf riss und ihr das Blut von den Zähnen tropfte. Ich sah unfruchtbare Frauen, die tot geborene Föten stillten. Ich sah eine elektronische Fliege aus Twitter herausfliegen und um die Leichname meiner Freunde schwirren. Ich sah ein Land in
einem Fischerboot fahren und einen Mann das Fleisch seines toten Bruders essen. Nicht metaphorisch wie im Koran, sondern einen Mann, der die Leiche seines bei der Bombardierung getöteten Bruders isst, um nicht zu verhungern. Der Wind wehte vorbei und fand den Baum nicht, fand die Stadt nicht, fand das Land nicht. Weder bellten die Hunde noch zog die Karawane vorbei. Meine verwitwete Ehefrau schaut zu mir, und der Krieg ist sauber wie das
Schachspiel. Die Ölfässer steigen im Preis und die TNT-Fässer sinken auf die Städte hinab, die Flugzeuge lecken an Schulbüchern und nuckeln an Kinderfingern. Und ich bin so still wie ein europäischer Bürger, der die Privilegien der Ersten Welt genießt und sich mit der Unschuld eines Hauswolfs fragt, was schwieriger zu ertragen ist: der schwedische Winter oder der arabische Frühling?
Absurde Fußnote:
Die New York Times sagt: Milch ist weiß. Paul Celan sagt: Milch ist schwarz. Meine Mutter sagt: Es gibt keine Milch!
(Schnitt)
* * *
4. Eine Metapher aus einer virtuellen Welt
Dante hatte recht. Diese Komödie, die wir erleben, ist göttlich.
Oder, um fair zu sein, sagen wir, sie ist mindestens zu siebenundneunzig Prozent göttlich. Wie willst du sonst erklären, dass alles um uns herum einer Metapher aus einer virtuellen Welt entstammt!
Die Blumen machen Sex durch Bienen!
Adolf Hitler war Vegetarier!
Wir sind glücklich, weil die Vereinigten Staaten von Amerika keine Atombombe auf Tokio warfen!
Diktatorenunterstützer demonstrieren für ein Demonstrationsverbot!
Ich liebe dich!
Gott verkauft das Land, das voller Milch und Honig ist!
Finnland ist laut Weltglücksbericht das glücklichste Land der Welt!
Das Kreuz, das um deinen Hals hängt, ist nichts als ein römisches Folterinstrument!
Tragikomische Fußnote:
Weil am Ende alle sterben, ist die Sterberate in Schweden und Syrien gleich hoch.
(Schnitt)
Évian
Letztes Jahr, um nur ein Beispiel zu nennen, starb ein mit Flüchtlingen voll besetztes Boot an Herzinfarkt; als das erste Schiff den Unglücksort erreichte, war das Mittelmeer schon untergegangen. Man fand Wasser, das erstickt war; man fand Wellen, die klatschnass waren; man fand die Europäische Union, die versuchte, sich an ein Stück Holz aus den Überresten des Bootes zu klammern, um sich zu retten. Die Kinder fand man nicht.
Erste Untersuchungsergebnisse bewiesen eindeutig, was auf den Satellitenbildern zu erkennen gewesen war: dass das untergegangene Boot nicht hatte schwimmen können.
In den Zwanzig-Uhr-Nachrichten, als das Wasser des Mittelmeers ganz ruhig aus dem Fernseher auf die Parkettfußböden der Wohnzimmer floss und die glücklichen Familien in den sicheren Ländern verunsicherte und eine gewisse Unruhe im Sexualverhalten der schweigenden Mehrheit in Mittel- und Nordeuropa verursachte, fragte eine Europäerin der Mittelschicht so überraschend wie das plötzliche Wachstum der Pilze im Wald, warum sie über das Meer gekommen seien statt mit einem gültigen Visum
im Flugzeug. Überwältigt von dieser ungeheuerlichen weißen Unschuld beging der Fernseher Selbstmord.
In seinem Telefonkommentar zu dem tragischen Ereignis sagte der Integrationsbeauftragte der Migrationsbehörde: Was machen wir jetzt? Die neue Fracht Flüchtlinge, die den alten europäischen Rentnern den Hintern abwischen sollte, ist tot!
In den Zwanzig-Uhr-Nachrichten zitierte eine weiße Nachrichtensprecherin, die noch keine Kinder hatte, einen Nahostexperten, der den Nahen Osten noch nicht bereist hatte, mit den Worten: Womöglich sind die Kinder aus postmodernen Gründen verschwunden, als sie Verstecken spielten. Jesus, der Sohn von Maria, war der einzige Überlebende. Sie fanden ihn, wie er über das Wasser lief.
Anmerkungen 1:
Sie werden uns unsere Arbeit und unsere Wohnungen nehmen, sie werden unsere Frauen verführen, sie werden die Ressourcen an sich reißen, die wir für die Armen vorgesehen haben, Verbrecher und Spione werden sich unter sie mischen, sie werden die Stabilität ins Wanken bringen, und es wird zum Zerfall der Gesellschaft kommen. Sie sehen scheußlich aus, sie übertragen Krankheiten, sie haben unterschiedliche Werte und eine andere Kultur und eine seltsame Moral und sie werden sich nicht integrieren können.
Anmerkungen 2:
Die rassistischen Worte in Anmerkung 1 verweisen nicht auf die derzeitige sogenannte Flüchtlingskrise, mit der die syrischen Flüchtlinge gemeint sind. Mit diesen Worten wurden in der westlichen Presse die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich beschrieben, die vor dem Zweiten Weltkrieg versuchten, dem Nationalsozialismus zu entfliehen.
Anmerkungen 3:
Im Jahr 1938 trafen sich zweiunddreißig Staaten auf der Konferenz von Évian, um über die Krise der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich zu beraten. Die Vereinigten Staaten lehnten eine Erhöhung der jährlichen Flüchtlingskontingente sogar schon vor Beginn der Sitzung ab. Großbritannien erklärte, das Königreich sei kein Einwanderungsland. Alle Staaten weigerten sich, die Flüchtlinge aufzunehmen. Am 13. Juli schrieb der Völkische
Beobachter, die Parteizeitung der Nationalsozialisten, im Tonfall des Triumphs: „keiner will sie haben.“
(Ich habe das Gefühl, es war Adolf Hitler persönlich, der den
Artikel schrieb). Vier Monate nach Ende der Konferenz begingen die Nationalsozialisten die „Kristallnacht“, dann begannen sie sukzessive mit der Lösung des Judenproblems auf ihre eigene Art und Weise, die, wie wir wissen, die „Endlösung“ war.
Wie ich ... wurde
Ihre Trauer fiel vom Balkon und zerbrach, sodass sie eine neue Trauer brauchte, als ich sie zum Markt begleitete, war die Trauer unvorstellbar teuer, ich riet ihr, eine gebrauchte Trauer zu kaufen, wir fanden eine Trauer, die fast neu war, wenn auch ein wenig zu weit, und einem jungen Dichter gehört hatte, der letzten Sommer Selbstmord beging, wie uns der Verkäufer erzählte, ihr gefiel die Trauer, und wir beschlossen, sie zu nehmen, wir verhandelten mit dem Verkäufer über den Preis, und er sagte, er würde uns als
Geschenk eine Sorge aus den Sechzigerjahren dazugeben, wenn wir die Trauer kauften, wir wurden uns einig, und ich freute mich über diese unverhoffte Sorge, als sie meine Freude spürte, sagte sie: Sie ist für dich. Ich steckte die Sorge in meine Tasche, und wir machten uns auf den Weg, abends erinnerte ich mich an sie, nahm sie aus der Tasche und betrachtete sie prüfend, sie war, obwohl schon ein halbes Jahrhundert in Benutzung, von hoher Qualität und in einem guten Zustand, dem Verkäufer war ihr Wert sicher nicht bewusst gewesen, sonst hätte er sie uns nicht einfach zu der
abgenutzten Trauer eines jungen Dichters dazugegeben, noch mehr freute ich mich aber darüber, dass es sich um eine existenzielle Sorge handelte, professionell gearbeitet mit höchst präzisen und wundervollen Details versehen, sie hatte sicher einem Intellektuellen mit enzyklopädischem Wissen oder einem früheren Gefangenen gehört, als ich sie zu benutzen begann, wurde die Schlaflosigkeit zu
meiner täglichen Gefährtin, und ich wurde ein leidenschaftlicher Unterstützer von Friedensverhandlungen und hörte auf, Verwandte zu besuchen, die Autobiografien in meiner Bibliothek nahmen zu, und nur selten äußerte ich eine Meinung, die Menschen wurden mir wichtiger als die Heimat, und ich begann, eine generelle Langeweile
zu verspüren, doch am meisten fiel mir auf, dass ich
zum Dichter wurde.
Frauen
Frauen, die in Europa mit dem Keuschheitsgürtel verschlossen wurden.
Hexen, die man im Mittelalter verbrannte.
Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, die unter Männerpseudonymen schrieben, um veröffentlicht zu werden.
Teepflückerinnen in Ceylon.
Frauen Berlins, die die Stadt nach dem Krieg wiederaufbauten.
Baumwollpflückerinnen in Ägypten.
Algerische Frauen, die ihre Körper mit Kot beschmierten, um nicht von den französischen Soldaten vergewaltigt zu werden.
Zigarrenjungfrauen in Kuba.
Kämpferinnen der Black Diamonds in Liberia.
Sambatänzerinnen in Brasilien.
Frauen, die ihr Gesicht durch Säure in Afghanistan verloren.
Meine Mutter.
Es tut mir leid.
Übersetzungen aus dem Arabischen von Larissa Bender
Arabic Music Days
Musik, bildende Kunst, Poesie und Film