
Bach: Das Wohltemperierte Klavier
Schaghajegh Nosrati
Musik / Konzert Klavier / Solo 0Innerhalb weniger Jahre hat sich Schaghajegh Nosrati als vielversprechende Bach-Interpretin einen Namen gemacht, u.a. mit hochgelobten Einspielungen der Kunst der Fuge und der Klavierpartiten. „Ich bin kein religiöser Mensch, aber in Bachs Musik spüre ich Zusammenhalt, einen größeren Sinn“, erklärt die junge Pianistin, die seit zwei Jahren als Assistentin ihres ehemaligen Lehrers Sir András Schiff an der Barenboim-Said Akademie unterrichtet. In ihrem Soloabend interpretiert sie den ersten Band des Wohltemperierten Klaviers.
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Johann Sebastian Bach
Das wohltemperierte Klavier
Band I BWV 846–869 (1722)
I. Präludium und Fuge à 4 C-Dur
II. Präludium und Fuge à 3 c-moll
III. Präludium und Fuge à 3 Cis-Dur
IV. Präludium und Fuge à 5 cis-moll
V. Präludium und Fuge à 4 D-Dur
VI. Präludium und Fuge à 3 d-moll
VII. Präludium und Fuge à 3 Es-Dur
VIII. Präludium und Fuge à 3 es-moll
IX. Präludium und Fuge à 3 E-Dur
X. Präludium und Fuge à 2 e-moll
XI. Präludium und Fuge à 3 F-Dur
XII. Präludium und Fuge à 4 f-moll
XIII. Präludium und Fuge à 3 Fis-Dur
XIV. Präludium und Fuge à 4 fis-moll
XV. Präludium und Fuge à 4 G-Dur
XVI. Präludium und Fuge à 4 g-moll
XVII. Präludium und Fuge à 4 As-Dur
XVIII. Präludium und Fuge à 4 gis-moll
XIX. Präludium und Fuge à 3 A-Dur
XX. Präludium und Fuge à 4 a-moll
XXI. Präludium und Fuge à 3 B-Dur
XXII. Präludium und Fuge à 5 b-moll
XXIII. Präludium und Fuge à 4 H-Dur
XXIV. Präludium und Fuge à 3 h-moll
Die Werke Bachs bilden sicherlich den Schwerpunkt Ihres Repertoires, Sie spielen aber auch Rachmaninow, die Klavierkonzerte von Anton Rubinstein oder virtuose Musik von Charles-Valentin Alkan. Wie bringen Sie diese Welten zusammen?
Ich sehe Bach als eine Art Ausgangsbasis, und ich habe das Gefühl, man bekommt einen leichteren Zugang zu ganz anderen Stilen, wenn man seine Musik gespielt hat. Den umgekehrten Weg finde ich schwierig – man kommt nicht so recht von Rachmaninow zu Bach. Und wenn man bei Bach zu Hause ist, erscheinen einem auch die hochvirtuosen Sachen selbst technisch viel weniger komplex. Aber wie kann überhaupt Anderes neben dieser großartigen Musik bestehen? Bach ist und bleibt in meinen Augen unerreicht, er war von allen Komponisten der vollkommenste. Natürlich kann man auch in den Werken anderer Komponisten Interessantes und Hörenswertes finden – da kommt mir meine Offenheit und Toleranz gegenüber verschiedenster Musik entgegen, die ich schon immer hatte, vielleicht auch geprägt durch meinen ersten Lehrer, Rainer Maria Klaas. Bei ihm habe ich auch viel Neue Musik und Unbekanntes gespielt, ohne Berührungsangst vor dem, was für mich damals nicht mehr als ein Name war.
Sie haben die Reihe Ihrer CD-Einspielungen vor mehr als sechs Jahren mit Bachs Kunst der Fuge begonnen, nun folgt das Wohltemperierte Klavier. Würde man normalerweise nicht den umgekehrten Weg gehen?
Ja, sicher. Aber das liegt einfach daran, dass ich schon sehr früh, als Teenager, mit der Kunst der Fuge in Berührung gekommen bin. Das hat mich dann nicht mehr losgelassen, und ich hatte insofern lange Zeit, mich damit zu beschäftigen. Außerdem hatte ich natürlich vorher schon viele einzelne Stücke von Bach gespielt. Aber einen ganzen Zyklus habe ich tatsächlich mit der Kunst der Fuge zum ersten Mal gelernt und auch aufgeführt. So war diese Wahl für die erste Aufnahme einfach eine innere Notwendigkeit für mich. Neulich habe ich eine alte Videoaufnahme aus unserem Familienbestand entdeckt. Da war ich zehn, saß auf dem Sofa und habe gelesen, und im Hintergrund lief die Kunst der Fuge. Wir haben diese Musik anscheinend schon sehr früh zu Hause gehört.
Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit dem Wohltemperierten Klavier?
Ich war acht oder neun und durfte mir ein Stück daraus aussuchen. Also habe ich alles einmal angespielt und mich dann zuerst für Präludium und Fuge Cis-Dur aus dem zweiten Band entschieden, danach kam das Werkpaar in cis-moll aus dem ersten Band. In diesem Alter war natürlich der emotionale Bezug ausschlaggebend. Das waren die Stücke, die mich auf Anhieb gefesselt haben. Allein schon das erste der drei Themen der cis-Moll- Fuge, in seiner Schlichtheit und Konzentration – das hat mich gebannt. Ähnlich war es etwas später bei der Kunst der Fuge, dass ich gefühlt habe, wie diese Kraft des Themas in mir arbeitet. Und das hieß wiederum, dass ich daran arbeiten musste.
Was bedeuten die Fugen des Wohltemperierten Klaviers für Sie, und wie hat sich Ihr Verständnis im Laufe der Jahre entwickelt?
Ich glaube, das Faszinierende für mich jetzt ist die Erfahrung der Freiheit in einer Fuge. Man denkt immer, alles ist Konstruktion, aber es gibt eben auch große Freiheiten in fast jeder Fuge, und sie unterscheiden sich sehr. Es ist großartig, zu entdecken, was es für unglaubliche Möglichkeiten gibt. Und auch das unterschiedliche Verhältnis, in dem die Fugen zu den Präludien stehen können: Es gibt Werkpaare, bei denen man denkt, sie sind ziemlich konträr, zwar in der gleichen Tonart, aber in Ausdruck und Charakter doch recht unterschiedlich. Zum Beispiel in g-moll: das Präludium hat etwas Lyrisches und Gesangliches, die Fuge wiederum ist sehr markant und auch sehr dramatisch. Und dann gibt es Werkpaare, in denen beide Stücke nahezu miteinander verwoben sind, z.B. in H-Dur – in Charakter und Motivik kommen beide Stücke aus derselben Urzelle. Diese Verhältnisse wiederholen sich innerhalb der Sammlung nie genau gleich. Es gibt Entsprechungen und Symmetrien, aber jedes Stück ist ganz individuell gearbeitet.
Was heißt das für die Interpretation, zum Beispiel im allerersten Werkpaar?
Das C-Dur-Paar beginnt mit dem Präludium, das wellenförmig strömt und noch nicht so konfliktbeladen ist wie manche der späteren. Die Fuge schließt sich für mich wie aus einem Guss an. Dabei ist sie sehr komplex, voll von anspruchsvollen kontrapunktischen Techniken, schon recht früh gibt es zum Beispiel auch eine Engführung. Die große Herausforderung besteht darin, die Komplexität herauszuarbeiten, aber so, dass es nicht akademisch oder dogmatisch wirkt. Ich möchte, dass das Publikum schon beim ersten Hören die Chance hat, so viel wie möglich zu erfassen, ohne es dabei zu sehr zu belehren.
Im Pierre Boulez Saal machen Sie im ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers eine Pause nach dem zwölften Werkpaar…
Ich habe schon beide Varianten ausprobiert. Eigentlich mag ich es, ohne Pause zu spielen, mit dem Gefühl eines großen Bogens. Andererseits macht eine Pause nach der Nummer zwölf auch Sinn, denn das Fis-Dur-Präludium hat danach wirklich etwas von einem Neuanfang. Und ich glaube, fürs Zuhören ist es angenehm, den Kopf einmal durchzulüften und dann wieder frisch zu hören. Beim Wohltemperierten Klavier ist es auch weniger problematisch als bei wirklich zyklischen Werken wie den „Goldberg-Variationen“. Hier haben wir es eher mit einer Sammlung zu tun.
Aber Sie versuchen trotzdem, eine Dramaturgie hörbar zu machen?
Ich sehe vor allem eine Unterteilung des Ganzen in sechs mal vier. Vier Werkpaare gehören immer zusammen, und die jeweils letzte Fuge einer solchen Gruppe ist auch besonders anspruchsvoll gearbeitet, sehr ausdrucksvoll und länger, fast monumental manchmal. Etwas anders ist es bei der relativ kurzen g-moll-Fuge, aber sie bekommt durch die Verarbeitung des Mottos „Soli Deo Gloria“ mit den Tonnamen Es-D-G ihr musikalisches Gewicht.
Bildet das Werkpaar in h-moll am Schluss der Sammlung ein echtes Finale?
Ja, absolut. Es sticht auf so vielfältige Weise heraus. Nicht nur durch den Umfang – es ist ja das längste Werkpaar. Das Präludium ist das einzige, das zweiteilig mit Wiederholung beider Teile angelegt ist und dadurch schon auf den zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers verweist. Und das Thema der Fuge ist so unglaublich modern, so zukunftsweisend in seiner Zwölftönigkeit. Gleichzeitig hat man den Eindruck, dass das Grundkonzept des Wohltemperierten Klaviers noch einmal auf die Spitze getrieben wird, indem wir ein Thema mit zwölf verschiedenen Tönen vorgeführt bekommen und damit die Idee des Durchschreitens aller Tonarten in konzentriertester Form erleben. Übrigens finde ich es schwierig, danach noch eine Zugabe zu spielen, denn mit dieser Fuge ist erst einmal alles gesagt.
Bach hat außer den Noten nicht viel in seinen Text hineingeschrieben. Was sind die wichtigsten Entscheidungen, die Sie selbst treffen müssen?
Das betrifft natürlich vor allem die Dynamik. Sie muss dem Charakter entsprechen, aber auch dazu verhelfen, die Struktur des Stücks verständlich zu machen. Auch die Tempovorstellung muss man selbst entwickeln – und sie verändert sich mit der Zeit, je mehr Musik ich kennenlerne und insbesondere je mehr Musik von Bach ich kennenlerne. Grundsätzlich finde ich es wichtig, in den schnellen Sätzen das Tempo etwas zurückzuhalten, damit sich nicht das Gefühl eines rein mechanischen Spiels einstellt. Auch die kleinen Noten brauchen Raum, um sich zu entfalten. Und Langsames darf nicht zerfallen. Ich glaube schon, dass es so etwas wie ein ideales Tempo für jedes Stück gibt – aber innerhalb eines gewissen Toleranzspielraums. Manchmal finden sich ja auch ausdrücklich bezeichnete Tempowechsel, etwa im e-moll-Präludium. Da möchte ich klare Proportionen schaffen. Auch die Phrasierung muss man sich selbst erschließen. Vieles ergibt sich für mich schon, wenn ich mich mit dem Verlauf einer Linie beschäftige. Aber ich schaue auch in Phrasierungslehren der Zeit. Wichtig ist vor allem, dass man eine einmal gewählte Phrasierung zum Beispiel für das Thema einer Fuge auch durchhalten kann, in allem, was das Stück einem fingertechnisch abverlangt, dabei darf es keine Kompromisse geben. Das Musikalische muss entscheidend sein, nicht die eigene Bequemlichkeit.
Und das Pedal?
Das rechte Pedal ist nicht verboten – aber es darf nie aus Gewohnheit oder als Verlegenheitslösung eingesetzt werden. Ich benutze es manchmal, um eine Bindung zu schaffen, die sonst nicht möglich wäre, um einen Klang noch nach dem Anschlag zu verstärken oder vor allem um eine bestimmte Phrasierung zu erreichen, zum Beispiel ein weiches Abrunden des Schlussklangs. Das linke Pedal verwende ich tatsächlich nie, weil es einen für diese Stilistik zu gedämpften und „kernlosen“ Klang erzeugt. Eher noch gebrauche ich das Sostenuto-Pedal, z.B. an einer Stelle am Schluss der a-moll-Fuge, wo man dadurch einen Orgelpunkt nachklingen lassen kann, der sonst auf dem Klavier nicht realisierbar ist. Hier hatte Bach natürlich eine Orgel als Instrument im Sinn.
„Clavier“ bezeichnete zu Bachs Zeit ja alle Arten von Tasteninstrumenten.
Genau, und damit sind wir wieder bei der Idee der Sammlung. Ich kann hier die verschiedensten Klangvorbilder erkennen, und sie geben mir auch Vorstellungen für den Klavierklang. Dabei geht es nicht nur um Cembalo, Orgel oder Clavichord, sondern auch um ganz andere Instrumente, wie im As-Dur-Präludium. Das ist eigentlich ein Concerto grosso.
Ihre neue CD mit dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers ist gerade erschienen. Worin besteht für Sie der Unterschied zwischen der Sitzung im Studio und dem Konzert?
Das Konzert ist etwas ganz Anderes – hier geht es um den Kontakt mit dem Publikum. Auch wenn ich diejenige bin, die die Musik aktiv produziert, habe ich das Gefühl, dass auch von den Zuhörenden etwas zurückkommt. Die Musik entsteht in diesem Moment auf eine Weise, die es sonst nicht gibt. Bei der Aufnahme habe ich zwar überwiegend komplette Takes gemacht und versucht, die Stücke so wenig wie möglich zu zerteilen, aber natürlich nicht alles in einem großen Bogen gespielt wie im Konzert. Vielmehr habe ich immer ein Paar aufgenommen, Präludium und Fuge.
Gibt es unter den 48 Stücken ein Lieblingsstück als Pianistin? Und eines als Musikerin?
Nein, das könnte ich nicht sagen. Das ist so, als ob ich mich zwischen der Liebe für Vater oder Mutter entscheiden müsste. Ich glaube, dass es für mich auch keinen Unterschied gäbe als Pianistin und Musikerin, denn ich versuche immer, von der Musik her zu denken.
Wie sehen Sie sich grundsätzlich als Interpretin, speziell der Musik Bachs?
Im Text zu meiner CD habe ich dazu etwas geschrieben, das ich gerne noch einmal zitieren möchte: Für mein Empfinden verträgt Bachs Musik keine große Exzentrik; das Exzentrische ist immer eine modische Erscheinung, wohingegen sich die Bach’sche Musik durch ihre Zeitlosigkeit und Universalität auszeichnet. An einer guten Bach-Interpretation schätze ich vor allem Klarheit, Natürlichkeit und Ehrlichkeit sowie einen spürbaren Respekt vor dem Werk. Der häufig vorgenommene Versuch, Bachs Musik auf Biegen und Brechen einen individuellen Stempel aufzudrücken, geht an ihrem Wesen vorbei und ist überdies gänzlich überflüssig, denn das Individuelle macht sich auch dann bemerkbar (und vielleicht sogar in einem noch größeren Maße), wenn man es nicht bewusst hervorkehrt.
Sie haben einige Jahre an der Musikhochschule Hannover unterrichtet, wo Sie auch selbst studiert haben, und danach ein Studium an der Barenboim-Said Akademie bei András Schiff angeschlossen, als dessen Assistentin Sie seit 2020 unterrichten. Was ist für Sie das Besondere an diesem Haus?
Neben dem hohen musikalischen Anspruch ist das sicherlich der geisteswissenschaftliche Hintergrund, der hier für alle Studierenden zum Lehrplan gehört. Und es ist der humanistische Aspekt: Weil die meisten Studierenden sowohl zusammen arbeiten als auch zusammen leben, lernen sie sich als Menschen kennen, nicht nur zum Beispiel als Israelis oder Palästinenser. Das bereichert auch das Erleben von Musik. Es geht nicht nur ums Üben, so wichtig das ist. Ich glaube, wenn man auf dem Weg ist, wirklich Musiker oder Musikerin zu werden, soll die Maxime nicht sein, so viel wie möglich zu üben. Richtiger ist eher, es so viel wie nötig und so wenig wie möglich zu tun, um sich vielseitig entwickeln zu können.
Das Gespräch führte Martin Wilkening.
Das Interview wurde ursprünglich im Programmheft des Pierre Boulez Saals für die Aufführung des Wohltemperierten Klaviers am 19. Oktober 2022 veröffentlicht.
Klavier
Schaghajegh Nosrati
Schaghajegh Nosrati wird unterstützt mit freundlicher Genehmigung von Avi-service for music
© 2021 Schaghajegh Nosrati / Avi-Service for music
℗ 2022 Avi-service for music