
The Colors of Ars Nova
La fonte musica & Michele Pasotti
Musik / Konzert Ensemble & Orchester / Alte Musik 0Leonardo da Vinci wird der Ausspruch zugeschrieben, Musik sei die Schwester der Malerei. Das Ensemble La fonte musica und sein Gründer Michele Pasotti, die zu den führenden Interpreten der Musik des italienischen Trecento gehören und bereits mehrfach das Publikum im Pierre Boulez Saal begeisterten, nehmen diesen Gedanken zum Ausgangspunkt für eine faszinierende Erkundung der „realistischen Revolution“ in den Künsten der Frührenaissance. Nach ihrem Konzert im März 2022, das mit einer Auswahl weltlicher Werke der Ars nova überraschende Parallelen zwischen visuellem und musikalischem Denken dieser Epoche offenbarte, sind in diesem zweiten Programm nun sakrale Kompositionen von Johannes Cicona, Marchetto da Padova und anderen zu hören, denen atemberaubende Fresken und Gemälde von Giotto di Bondone an die Seite gestellt werden.
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Laudario di Cortona (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts)
Sia laudato San Francesco
Codex Santa Maria Maggiore 1, Guardiagrele (um 1400)
Alleluja
Codex Faenza 117 (15. Jahrhundert)
Kyrie (instrumental)
Johannes Ciconia (um 1370–1412)
O Padua sidus praeclarum
Marchetto da Padova (fl. 1305–19)
Ave regina caelorum / Mater innocencie
Johannes Ciconia
O felix templum jubila
Matteo da Perugia (fl. 1402–26)
Ave sancta mundi salus / Agnus Dei
Codex Faenza 117
Benedicamus Domino (instrumental)
Guillaume de Machaut (um 1300–1377)
Sanctus & Benedictus from the Missa de Notre Dame
Convento di Santa Maria dei Servi, Siena (14. Jahrhundert)
Ave stella matutina
Codex Faenza 117
Ohne Titel (instrumental)
Antonio Zacara da Teramo (um 1360–1416)
Credo „Deus Deorum“
Pause
Codex Faenza 117
Ave maris stella
Llibre Vermell de Montserrat (ca. 1500)
Mariam matrem virginem
Matteo da Perugia
Laurea martirii / Conlaudanda est
Codex Faenza 117
Constantia (instrumental)
Matteo da Perugia
Gloria
Antonio Zacara da Teramo
Credo
Zugabe
Guillaume Dufay (um 1397–1474)
Lamentatio sanctae matris ecclesiae Constantinopolitanae
„La musica non è da essere chiamata altro che sorella della pittura“ – Leonardo da Vinci wird der Ausspruch zugeschrieben, Musik könne nicht anders genannt werden als die „Schwester der Malerei“. In unserem heutigen Programm möchten wir dieser Verwandtschaftsbeziehung mit Blick auf die Musik der Ars nova und die Malerei des 14. Jahrhunderts auf den Grund gehen. Während sich die Komponisten neuartige Klangwelten, Gefühlsäußerungen und rhythmische Möglichkeiten erschlossen, machten sich auch die bildenden Künstler, allen voran Giotto di Bondone (1267?–1337), auf die Suche nach einem neuen Naturalismus: die Natur und ihre urbane Lebenswelt wurden zur Inspirationsquelle für Werke, in denen sie Emotionen in nie dagewesener Weise zum Ausdruck brachten.
Nach unserem ersten Konzert im vergangenen März, das der weltlichen Musik dieser Zeit gewidmet war, steht jetzt sakrale Kunst im Mittelpunkt: Wie behandelten die Komponisten der Ars nova und ihre Malerkollegen religiöse Themen und Motive? So wie in Darstellungen von Christus am Kreuz zunehmend echtes Leiden und Schmerz zu sehen sind, inszenieren auch die Komponisten die liturgischen Texte, die sie vertonen, in immer ausdrucksstärkerer Weise – was man später nicht ohne Grund als Wortmalerei bezeichnet hat.
Ähnlich wie die Einführung der perspektivischen Darstellung in den bildenden Künsten der Renaissance parallel zur Entwicklung musikalischer Polyphonie verlief, sind auch Giottos „realistische“ Revolution und die Ursprünge der Ars nova eng miteinander verknüpft. Der Übergang von der älteren, byzantinischen Tradition, die die europäischen Malerei lange geprägt hatte, zu Giottos lebensnahen Motiven, seinem neuen Verständnis von Räumlichkeit und Körperlichkeit, ganz zu schweigen von der Ausdruckskraft seiner Figuren, ist eine Revolution von kaum zu überschätzender Tragweite. Sie markiert eine grundlegende Neubewertung der Realität selbst und die ästhetische Nobilitierung – auch der eher profaneren Aspekte – unserer Alltagswelt.
Giotto und die Begründer der musikalischen Ars nova waren auch über ihre Wirkungsstätten miteinander verbunden. „Kunst ahmt die Natur nach so gut sie kann (wie Aristoteles im zweiten Buch seiner Physik schreibt). Ich werde das mit einem Beispiel beweisen: Wer eine Lilie oder ein Pferd malt, versucht dies so zu tun, dass sein Bild einer Lilie oder einem Pferd in der Natur ähnelt.“ Dieses Zitat stammt aus dem Traktat Pomerium in arte musice mensurate des Musik- theoretikers und Komponisten Marchetto da Padova von 1318/19, dem „Vater“ der italienischen Ars nova, der in seinen Schriften immer wieder Vergleiche mit der Malerei bemüht. Marchetto stammte aus Padua, und während er sein Pomerium verfasste, malte Giotto in der dortigen Cappella degli Scrovegni seinen berühmten Freskenzyklus. Marchetto muss zuallererst an Giotto gedacht haben, als er die zitierte Passage schrieb.
Bei genauerer biographischer Analyse findet sich eine weitere Verbindung nicht nur zwischen Giotto und Marchetto, sondern auch zu Philippe de Vitry, dem Begründer der französischen Ars-nova- Tradition. In den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts war der Hof König Roberts von Anjou in Neapel ein Anziehungspunkt für die kulturelle Avantgarde der Zeit.
Einige der berühmtesten Künstler aus Umbrien und der Toskana waren dort tätig – unter ihnen auch Giotto, der gemeinsam mit anderen Malern aus seiner Werkstatt bedeutende Fresken im neapolitanischen Castel Nuovo und im Konvent St. Chiara schuf. Der König selbst war passionierter Sänger und schrieb gelegentlich auch eigene Melodien. Marchettos Pomerium ist ihm gewidmet.
Der Geschichtsschreiber Bernardino Scardeone berichtet im 16. Jahrhundert, Marchetto habe sich bei seinem Aufenthalt am angevinischen Hof in Neapel mit Robert angefreundet: „Marchetto hatte gelernt, die Stimmung des Königs nach Belieben zu beruhigen oder zu erregen, indem er die Melodien, seine Stimme und die Rhythmen seiner Lieder variierte.“ Auch Philippe de Vitry stand dem Hof Roberts nahe und begegnete Giotto und Marchetto wahrscheinlich um 1318/19 in der Provence. Es scheint also auch einen ganz realen Ort gegeben zu haben, der Giotto und die beiden wichtigsten Vertreter der italienischen und französischen Ars nova miteinander verband.
Die Ars nova bestand in ihren Anfängen in erster Linie in einer neuen und wesentlich genaueren Art und Weise, Musik aufzuschreiben. Sie erlaubte es den Komponisten, Rhythmen erstmals exakt und eindeutig zu notieren. Wie in der Malerei war es das Ziel Marchettos und seiner Zeitgenossen, musikalisches Geschehen in möglichst „realistischer“ und „naturalistischer“ Form auf dem Notenblatt zu fixieren und zu reproduzieren.
Dieser neuartige Naturalismus in Musik und Malerei hängt eng mit einer szientistischen, aristotelischen Kunstauffassung zusammen. Dank der Genauigkeit der Ars-nova-Notation konnten Komponisten nun den musikalischen Raum exakt „kontrollieren“ und so neue musikalische Perspektiven schaffen: Zum ersten Mal und mit weitaus größerem kreativem Spielraum ließ sich nun präzise festlegen, wo und wie die einzelnen Stimmen einer polyphonen Komposition aufeinandertreffen. Ähnlich wird auch in der Malerei, ausgehend von Giottos Werk, der durch die Anwendung von intuitiver malerischer Perspektive den Eindruck von Dreidimensionalität erweckt, der Bildraum neu konzeptualisiert und organisiert. Und schließlich verhandeln viele weltliche Kompositionen der Ars nova Themen wie Liebe, Tod, Verlust, Schmerz, Freude, Sex, Träume, Jagden, Tiere, Märkte, Schiffbrüche oder Feuersbrünste in völlig neuer Expressivität: Menschliche Emotionen und Leidenschaften werden „realistisch“ repräsentiert, so wie wir die Gefühlszustände von Giottos Figuren direkt an ihrer Mimik und Gestik ablesen und verstehen können.
Um die Parallelen zwischen Musik und Malerei so anschaulich wie möglich darzustellen, habe ich zu den Stücken des heutigen Programms 13 Meisterwerke von Giotto di Bondone ausgewählt, von seinen frühen Fresken in der Basilika San Francesco in Assisi bis zu seinen letzten Tafelbildern.
—Michele Pasotti
Notes originally published in the Pierre Boulez Saal program book for the performance The Colors of Ars Nova on October 15, 2022.
Um die Parallelen zwischen Musik und Malerei so anschaulich wie möglich darzustellen, habe ich zu den Stücken des heutigen Programms 13 Meisterwerke von Giotto di Bondone ausgewählt, von seinen frühen Fresken in der Basilika San Francesco in Assisi bis zu seinen letzten Tafelbildern.
—Michele Pasotti
1
Der heilige Franziskus predigt den Vögeln
© akg images / Erich Lessing
2
Maria Magdalenas Reise nach Marseille
© Creative Commons
3
Die Beweinung Christi
© akg images / De Agostini Picture Library / A. Dagli Orti
4
Die Begegnung Joachims und Annas an der Goldenen Pforte
© akg images / Cameraphoto
5
Mariae Tempelgang
© akg images / Mondadori Portfolio / Sergio Anelli
6
Deckenfresko
© akg-images / Mondadori Portfolio / 2001 / Archivio Quattrone
7
Das Jüngste Gericht
© akg images / Cameraphoto
8
Die Grablegun Mariae
© Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Jörg P. Anders
9
Kruzifix
© akg images / Rabatti & Domingie
10
Ognissanti-Madonna
© Gallerie degli Uffizi, Florenz
11
Der heilige Laurentius
© Musée Jacquemart-André, Chaalis / Creative Commons
12
Baroncelli-Polyptychon
© akg images / Heritage Images / Fine Art Images
13
Die Kreuzigung Christi
© Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Volker-H. Schneider / Eigentum des Kaiser Friedrich Museumsvereins