
Ravel Ma mère l’oye
Martha Argerich & Daniel Barenboim
Musik / Konzert Duo 0In Ma mère lʼOye („Mutter Gans“) beschwört Maurice Ravel auf liebevolle Weise die „Poesie der Kindheit“, wie er es ausdrückte. Meist begegnet einem das Werk in der Orchesterfassung, entstanden ist es aber ursprünglich 1908 als Suite für zwei Klaviere, hier dargeboten von den langjährigen musikalischen Weggefährten Martha Argerich und Daniel Barenboim. Szenen kindlicher Fantasie sind in Ravels Œuvre ein wiederkehrendes Thema, und die von ihm ausgewählten Märchen aus Charles Perraults Anthologie von 1697 (und einigen anderen französischen Quellen) beflügelten seine Erfindungskraft auf besondere Weise. Der kinderlose Komponist schrieb das Stücke für zwei Kinder aus seinem Bekanntenkreis – ihre Eltern führten einen Salon, in dem einige der interessantesten Pariser Künstlerpersönlichkeiten verkehrten – und hatte ganz offenkundig große Freude daran, Figuren wie Dornröschen, dem Däumling, der Schönen und dem Biest und anderen eine Stimme zu verleihen. Dabei enthält Ma mère lʼOye, wie Ravels Biograph Gerald Larner anmerkt, „mindestens ebenso viel erwachsene Nostalgie wie kindliche Freude“.
Maurice Ravel (1875–1937) Ma mère l’oye Fünf Kinderstücke für Klavier zu vier Händen (1910)
I. Pavane de la Belle au bois dormant (Dornröschens Pavane). Lent II. Petit Poucet (Der kleine Däumling). Très modéré III. Laideronnette, Impératrice des Pagodes (Laideronnette, Kaiserin der Pagoden). Mouvement de marche IV. Les Entretiens de la Belle et de la Bête (Gespräche zwischen der Schönen und dem Tier). Mouvement de Valse très modéré V. Le Jardin féerique (Der Feengarten). Lent et grave |
Martha Argerich, Daniel Barenboim, Klavier
Maurice Ravel hatte ein besonders enges Verhältnis zu Kindern und fühlte sich in ihrere Gegenwart oft wohler als unter Erwachsenen. Das mag an seiner physisch kleinen Statur gelegen haben, vielleicht zog ihn aber auch das natürlich direkte Wesen und die Spontaneität von Kindern an. Doch jedesmal, wenn Ravel sich musikalisch von einem kindlichen Blick auf die Welt inspirieren ließ, ist es einer, der aus der Erinnerung entspringt. Die Welt, die uns in Ma Mère l’Oye oder in seiner zauberhaften Oper L’Enfant et les sortilèges entgegentritt, ist gefärbt vom erwachsenen Blick auf etwas Kostbares, das uns verlorengegangen ist. „[Der] seltsame Märchenton, der gläserne Phantasiebrücken baut zwischen Leben und Einbildung, der das Raffinierte mit dem Naiven zu versöhnen versteht, wie sonst vielleicht nur der dänische Dichter Hans Christian Andersen, Ravel hat ihn wieder und wieder gefunden“, schreibt Hans Heinz Stuckenschmmidt in seiner Ravel-Biographie.
Ma Mère l’Oye ist Jean und Mimie Godebski gewidmet, den Kindern von Ravels engen Freunden Ida und Cipa Godebski, um die er sich (gemeinsam mit ihrem englischen Kindermädchen) im Sommer 1908 kümmerte, während die Eltern auf Reisen waren. Offenbar schrieb er das erste Stück zu dieser Zeit, die übrigen vier folgten jedoch erst 1910. Jahre später erinnerte sich Mimie: „Ravel erzählte mir stets wundervolle Geschichten. Ich saß auf seinem Schoß, und unermüdlich begann er mit „Es war einmal…‘ Laideronette, die Schöne und das Biest und vor allem die Abenteuer der armen Maus waren es, die er sich für mich ausdachte.“ Der Komponist erhoffte sich, dass Mimie und ihr Bruder das Stück erstaufführen würden, doch „diese Vorstellung ließ es mir kalt den Rücken hinunterlaufen“, erinnerte sie sich. „Trotz der Unterrichtsstunden bei Ravel war ich wie gelähmt, so dass die Idee fallengelassen wurde.“ Das Werk erlebte seine Premiere im ersten Konzert der Societé musicale indépendante am 20. April 1910, mit der elfjährigen Jeanne Leleu (der späteren „Prix de Rome“-Preisträgerin und Professorin am Konservatorium) und der 14-jährigen Geneviève Durony.
Der Titel der Suite geht zurück auf Charles Perrault, dessen Werk auch die Überschriften für die ersten beiden Stücke lieferte: Pavane de la Belle au bois dormant („Dornröschens Pavane“) und Petit Poucet („Der kleine Däumling“).
In den Noten der zweiten Nummer fügte Ravel einen kurzen Abschnitt aus Perraults Geschichte ein: „Er hatte, wo auch immer sie gegangen waren, Brot ausgestreut, und nun glaubte er, auf diese Weise leicht den Weg wieder finden zu können. Aber dann war er doch sehr überrascht, als er auch nicht ein einziges Krümchen mehr entdecken konnte. Die Vögel waren herbeigeflogen und hatten alles aufgefressen.“ Der Gefühl vom Wandern durch den Wald wird musikalisch zum Ausdruck gebracht in den wie ziellos in unregelmäßigen Taktarten sich windenden Ketten von Achtelnoten.
Laideronnette, Impératrice des Pagodes („Laideronnette, Kaiserin der Pagoden“) basiert auf der Erzählung Die grüne Schlange von Madame d’Aulnoy. In der Geschichte wird eine Prinzessin durch einen Zauberspruch zur Hässlichkeit verdammt, bis sie sich mit einer großen grünen Schlange vermählt – woraufhin sie sich in eine Schönheit verwandelt und aus der Schlange ein wohlgestalter Prinz wird. Die Textpassage, die Ravel in den Noten zitiert, beschreibt Laideronnette, wie sie im Bad von spielzeuggroßen Dienerinnen und Dienern mit Musik unterhalten wird. „Einige hatten Theorben, die aus Nusschalen, andere Gamben, die aus Mandelschalen gemacht waren, denn die Instrumente mußten die für sie passende Größe haben.“
Der Gedanke der Verwandlung vom Hässlichen ins Schöne spielt eine ebenso zentrale Rolle im vierten Stück, Les Entretiens de la Belle et de la Bête („Gespräche zwischen der Schönen und dem Tier“) nach der Geschichte von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont. Der Beginn dieser Nummer als langsamer, ausdrucksvoller Walzer erinnert so sehr an Eric Saties Gymnopédies, dass Ravel verschmitzt bemerkte, Satie sei ihr „grand-papa“. Dem eleganten Walzer der Schönen ist das Fauchen des Tieres in der Basslinie gegenübergestellt, das immer eindringlicher wird, bis die Schöne in einem rauschenden Glissando ihren Widerstand aufgibt – und alles in Schönheit endet.
Das Werk schließt mit Le Jardin féerique („Der Feengarten“), einer eigenen Erfindung Ravels. Nach einem Beginn von beinahe choralartiger Feierlichkeit nimmt die Musik immer ekstatischere Züge an, und es entsteht in Tönen das Bild eines im wahrsten Sinne wundervollen, Eden-gleichen Ortes.
—Paul Thomason
Dieser Text erschien erstmals im Programmheft des Pierre Boulez Saals zum Konzert von Martha Argerich und Daniel Barenboim am 23. Dezember 2017.
Klavier
Daniel Barenboim
Martha Argerich
Audio Producer
Friedemann Engelbrecht
Sound
Julian Schwenkner
Video Technicians
Markus Genge
Piet Grotelüschen
Kamera
Michael Boomers (DOP)
Thomas Falk
Winfried Hermann
Martin Roth
Volker Striemer
Jan Lehmann
Lighting Technician
Oliver Kühns
Editor
Peter Klum
Unit Manager
Valentina Schneck
Head of Production Salve TV
Karl-Martin Lötsch
UNITEL
Video Director
Eric Schulz
Producer
Magdalena Herbst
Production Manager
Franziska Pascher
Post-Production Manager
Roger Voß
Eine Produktion von Unitel in Zusammenarbeit mit Pierre Boulez Saal.
© Unitel 2018. Alle Rechte vorbehalten.
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