
Haupt- und Seitentäler: Die Gedichte von Saif al-Rahbi
Arabic Music Days 2022: Dichterlesung und Gespräch mit Saif al-Rahbi
Gespräch 0„Der omanische Dichter Saif al-Rahbi malt Bilder aus Worten, die mit jedem Lesen und jedem Hören tiefer wirken. Er ist eine der brillantesten Stimmen der zeitgenössischen arabischen Dichtung“, sagt Naseer Shamma. In der folgenden, eigens für den Pierre Boulez Saal entstandenen Videoproduktion, einschließlich einer Lesung aus dem Gedichtband Das Heulen der Wölfe, erhalten Sie einen sehr persönlichen Einblick in sein Leben und Werk. In diesem Video finden Sie Hinweise auf vier Gedichte, gelesen von Saif al-Rahbi. Sie können das Interview pausieren und die separate Aufnahme des jeweiligen Gedichts anhören.
Das Gespräch wurde auf Arabisch geführt. Für englische und deutsche Untertitel klicken Sie auf das Einstellungssymbol unten rechts.
Morgen
Morgendämm’rung, ihr Schatten wächst vor der Schwelle
die Vögel suchen Zuflucht an fremden Orten
die Angst hat sie in die Kasernen getrieben
du hörst nur die Flügel, einander stoßend
wie Auswand’rer, die vor einem Massaker gefloh’n sind.
Es war von Anfang an ein dunkler Morgen.
Nacht des Blitzes
Der Blitz trifft unsere Tage
wie heute Nacht dieses Zimmer
unweit des Meeres
diese verheerende Kraft des Lichts
Backgruben, aus dem Körper des Blitzschlags gehauen
und sorgsam gewebte Tücher
Erscheinungen irrender Fische
In diesem von Mut erhellten Augenblick
weicht der Schlaf aus den Augen
und das ganze Theater bereitet sich zum Gastmahl vor.
Haupt- und Seitentäler
Zwischen Nacht und Morgenfrühe
entdeckte ich, dass ich immer noch unterwegs war, keuchend
auf zwei in Schlaf versunkenen Beinen
kein Lichterglanz einer Stadt war zu seh’n
und auch kein Trugbild eines Ortes der Rast.
Auf zwei im Schlafe ruhenden Beinen
ich, der ich dachte, am Ziel zu sein
und der am erstbesten Eingang
Kaffeeduft atmete und das Bellen von Hunden vernahm
da ließ ich mich niedersinken
so wie eine Schar Erschöpfter und Verletzter niedersinkt
doch ich merkte, dass schwaches Licht
aus meinem Handgelenk drang
einem Blutfaden gleich,
der die Seiten- mit ihren ersten Haupttälern verbindet.
Der Brief
Bei jedem Brief, den ich öffne (meistens am Morgen)
denke ich, ich müsse zu einer Stadt aufbrechen…
die im Augenblick meiner Ankunft in ihr von der Flut hinweggerissen wird…
Beim ersten Blick, auf die Zeilen geworfen…
so wie man eine Leiche in eine tiefe Grube wirft…
hör’ ich das Atmen der Abwesenden…
ihr von Lachen unterbrochenes lautes Weinen…
Ich höre…
und ich sehe auch das erste Schimmern der Erleuchtung
an jenen Orten, die nicht mehr
zu beweinen sind…
und zwischen den Zeilen hervor und aus dem Raum um sie her
dringt Geschrei…
verschließt Horizont und Fenster
und ich fliehe… durchschneide das Band der in meinem Kopf rumorenden Gesichter
und fliehe
in Gegenden, die immer untergehen.

Der 1956 geborene Saif al-Rahbi ist ein omanischer Dichter, Essayist und Schriftsteller. Im Alter von 13 Jahren zog er nach Kairo, um dort die Schule zu besuchen. Seitdem hat er viele Jahre im Ausland gelebt, u.a. in Damaskus, Algerien, Paris und London. Mit seinem 1985 erschienenen dritten Gedichtband The Bells of Rapture machte er sich international einen Namen als wichtige Stimme in der arabischsprachigen Dichtung. Später kehrte er nach Oman zurück, wo er die Zeitschrift Nizwa ins Leben rief, die heute das wichtigste Kulturmagazin des Landes ist und die er als Herausgeber leitet. Er hat mehrere Gedicht- und Prosabände veröffentlicht.

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