
Den meisten Menschen ist nur eine Kultur gegenwärtig, ein Umfeld, eine Heimat; für Menschen im Exil sind es dagegen mindestens zwei, und diese Pluralität der Blickwinkel schafft ein Bewusstsein für die Gleichzeitigkeit verschiedener Dimensionen, ein Bewusstsein, das – um einen Begriff aus der Musik zu gebrauchen – kontrapunktisch ist. Edward W. Said, Reflections on Exile
Edward W. Said betrachtete Musik als ein Mittel dazu, sich den Widersprüchen des täglichen Lebens zu stellen. Sie war von zentraler Bedeutung für seine Arbeit als Wissenschaftler, und er hat sie dazu genutzt, außermusikalische Dinge zu beschreiben. Said verstand Kontrapunkt – die Kombination von zwei oder mehr Stimmen, die zwar harmonisch voneinander abhängig, rhythmisch und melodisch aber unabhängig sind – als grundlegende Metapher für die Komplexitäten des Lebens. Die Barenboim-Said Akademie lädt ein zu ihrer alljährlichen Hommage an Saids Leben und Werk: ein Blick auf das Phänomen Kontrapunkt in Vortrag, Konzert und Diskussion, kuratiert vom Dekan der Akademie, Prof. Dr. Mena Mark Hanna.
Mit den Edward W. Said Days ehren die Barenboim-Said Akademie und der Pierre Boulez Saal den 2003 verstorbenen palästinensischen Literaturwissenschaftler, der gemeinsam mit Daniel Barenboim das West-Eastern Divan Orchestra ins Leben rief. Said, der auch als Kritiker, Musiker und politischer Aktivist tätig war, gilt als einer der Wegbereiter des Postkolonialismus.
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Prof. Dr. Mena Mark Hanna, Dekan der Barenboim-Said Akademie, stellt das Programm der Edward W. Said Days vor.
Ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen beschäftigte sich Edward W. Said im Laufe seines Lebens immer wieder mit den Herausforderungen für kritisches Denken und humanistisches Handeln im Exil. Lesen Sie zum Einstieg in Saids Gedankenwelt hier seinen Essay Reflections on Exile und die Einleitung zum gleichnamigen Sammelband.
An einem Ort zu leben und ihm doch nicht zugehörig zu sein – dieses Phänomen steht im Zentrum des ersten Tages der Edward Said Days 2019. Der Film „A World Not Ours“ schildert das tägliche Leben in dem permanenten Provisorium eines Geflüchtetenlagers. Michael Woods Vortrag beschäftigt sich mit Verschiebungen und Momenten der Übereinstimmung in Literatur und Musik. Zum Abschluss erzählen die Tallis Scholars in ihrem Konzert sakraler Vokalmusik von der Hoffnung, einen gesicherten Platz in der Welt zu finden.
Am zweiten Tag der Edward Said Days 2019 dreht sich alles um die Heimat als etwas, das man nie haben, sondern immer nur verlieren kann. In seiner Ausstellung setzt sich der Fotograf Akinbode Akinbiyi mit den Zwängen des Exils auseinander. Sa’ed Atshan erkundet in seinem Vortrag die innere Zerrissenheit des palästinensischen Intellektuellen. Und die Tallis Scholars lassen zusammen mit Christoph Grund in ihrem Konzert einen Renaissance-Musiker und einen palästinensisch-israelischen Komponisten zu unverhofften Nachbarn werden.
Der letzte Tag der Edward W. Said Days 2019 kreist um jene Momente, in denen das scheinbar Vertraute plötzlich wieder fremd, offen und ungewiss erscheint. Die Schriftstellerin Adania Shibli untersucht in ihrem Vortrag die Hin-und-her-Bewegung zwischen verschiedenen Sprachen als einen Weg, die inneren Spannungen im vordergründig Lieblichen zu offenbaren. Im großen Abschlusskonzert mit Studierenden der Barenboim-Said Akademie wiederum wird der Kontrapunkt zum formalen Schlüssel, der verschiedene musikalische Ausdrucksformen miteinander kommunizieren lässt – ob Kammermusik und Oper in Verdis Streichquartett oder volkstümliche Musik und Neoklassizismus bei Bartók.