Irvine Arditti Violine
Ashot Sarkissjan Violine
Ralf Ehlers Viola
Lucas Fels Violoncello
Tomoki Kitamura Klavier
Jonathan Harvey (1939–2012)
Streichquartett Nr. 1 (1977)
Cathy Milliken
In Speak für Streichquartett (2023)
Uraufführung
Toshio Hosokawa (*1955)
Oreksis für Klavierquintett (2023)
Uraufführung
Pause
Harrison Birtwistle (1934–2022)
The Tree of Strings für Streichquartett (2007)
Cathy Milliken, In Speak
This project has been assisted by the Australian Government through Creative Australia, its principal arts investment and advisory body.
Toshio Hosokawa, Oreksis
Kompositionsauftrag des Arditti Quartet und der Suntory Hall, Tokio, gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung
Vor genau 50 Jahren gab das Arditti Quartet sein erstes Konzert. Vor die Aufgabe gestellt, innerhalb von 24 Stunden einen Namen zu finden, entschieden sie sich kurzerhand für den des Gründers. Als sie schließlich anfingen, über einen anderen nachzudenken, so erinnert sich Irvine Arditti, war es schon zu spät. Inzwischen ist das Arditti Quartet zum Synonym nicht nur für zeitgenössische Experimente in der traditionsreichen Gattung des Streichquartetts geworden, sondern auch für die enge Zusammenarbeit mit lebenden Komponist:innen.
Ein Gespräch mit Irvine Arditti
Zusammenarbeit als treibende Kraft
Ein Gespräch mit Irvine Arditti
Vor genau 50 Jahren gab das Arditti Quartet sein erstes Konzert. Die Royal Academy of Music hatte den Geiger Irvine Arditti gebeten, anlässlich der Verleihung einer Auszeichnung an den polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki ein Programm zu gestalten. Arditti versammelte eine Gruppe junger Musikerkollegen um sich, mit denen er unter anderem Pendereckis Zweites Streichquartett aufführte. Vor die Aufgabe gestellt, innerhalb von 24 Stunden einen Namen zu finden, entschieden sie sich kurzerhand für den des Gründers. Als sie schließlich anfingen, über einen anderen nachzudenken, so erinnert sich Arditti, war es schon zu spät.
Auch Arditti blieb dem Quartett treu, obwohl es für ihn in den ersten Jahren „nur ein Hobby“ war: „Wir spielten nur etwa fünf bis zehn Konzerte im Jahr, weil ich fast die ganze Zeit beschäftigt war“, erzählt der Geiger und Pionier der Neuen Musik in einem Interview kurz vor Beginn der Tournee zum 50-jährigen Bestehen des Ensembles. 1976 wurde Arditti Mitglied des London Symphony Orchestra und nur zwei Jahre später, im Alter von 25 Jahren, zum stellvertretenden Konzertmeister ernannt. Im Jahr 1980 entschied er sich, das LSO zu verlassen, um sich auf sein Quartett zu konzentrieren. Dessen Zusammensetzung wechselte im Laufe der Jahrzehnte mehrfach, mit Irvine Arditti als einziger Konstante. Vor der jetzigen Besetzung mit dem Geiger Ashot Sarkissjan, dem Bratschisten Ralf Ehlers und dem Cellisten Lucas Fels spielten insgesamt zehn andere Musiker:innen in dem Ensemble.
Inzwischen ist das Arditti Quartet zum Synonym nicht nur für zeitgenössische Experimente in der traditionsreichen Gattung des Streichquartetts geworden, sondern auch für die enge Zusammenarbeit mit lebenden Komponist:innen. Folgerichtig trägt Ardittis kürzlich erschienenes, umfassendes Buch über die Geschichte des Ensembles den Titel Collaborations: Reflections on 50 Years of Working with Composers. Es ist eine unschätzbare Quelle, die die Entwicklung des Arditti Quartet anhand denkwürdiger Anekdoten über seine wichtigsten Kooperationen mit Komponist:innen nachzeichnet und sein Repertoire aus der Sicht eines Musikers (und nicht eines Musikwissenschaftlers) analysiert.
György Ligeti, John Cage, Elliott Carter, Pierre Boulez, Roger Reynolds, Wolfgang Rihm, Toshio Hosokawa – das sind nur einige der Komponist:innen, denen in Collaborations jeweils ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Sie wiederum repräsentieren nur einen Bruchteil von mehreren hundert neuen Werken und Auftragskompositionen, für die sich die Mitglieder des Arditti Quartet eingesetzt haben und die auf ihren über 200 Einspielungen dokumentiert sind. Ein vollständiges Archiv des Arditti Quartet – das 1999 als bislang einziges Ensemble mit dem Ernst von Siemens Musikpreis für sein „Lebenswerk“ ausgezeichnet wurde – befindet sich in der Paul Sacher Stiftung in Basel.
Wie hat Ihre Leidenschaft für zeitgenössische Musik Sie auf das Streichquartett als Ausdrucksmittel gebracht?
Als Student an der Royal Academy spielte ich zweite Geige in einem klassischen Quartett, was mich aber nicht besonders interessierte. Dafür kannte ich mich mit zeitgenössischer Musik gut aus. Ich kann mich erinnern, dass ich mit zwölf oder 13 Jahren nach Oxford fuhr, um ein Konzert mit dem Französischen Rundfunkorchesters zu hören, und dort Messiaen und Xenakis begegnete. Und noch bevor ich mit 16 an die Akademie kam, war ich in Darmstadt gewesen und lernte dort Stockhausen und Ligeti kennen.
Während in den 1960er Jahren die meisten Leute in London die Beatles hörten, hörte ich zeitgenössische Musik: Mich interessierten die Komponist:innen der europäischen Avantgarde, und ich war entschlossen, engere Kontakte zu ihnen zu knüpfen. Diese Gelegenheit ergab sich, als ich gebeten wurde, für die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Academy an Penderecki einige seiner Stücke auszuwählen und wir mit ihm zusammenarbeiten konnten. Das war die Initialzündung für unsere weitere Entwicklung. Man kann Mozart oder Haydn nicht anrufen und fragen, wie ihre Triller gespielt werden sollen. Aber man konnte Penderecki fragen, was er mit diesem oder jenem meinte, und das fand ich faszinierend.
Kurz danach hatten Sie allerdings schon eine vielversprechende Karriere als stellvertretender Konzertmeister des London Symphony Orchestra – und natürlich waren und sind Sie auch weiterhin ein von vielen Komponist:innen geschätzter Solist. Was gab den Anstoß, das Orchester zu verlassen, um sich ganz auf das Arditti Quartet zu konzentrieren?
Wir wurden immer häufiger für Konzerte engagiert, es war eine regelrechte Lawine. Wir fingen an, ganze Tage für Proben zu reservieren und die Komponist:innen einzuladen, mit uns zu arbeiten. Die waren mit den Ergebnissen zufrieden, und das merkten die Leute. Eigentlich hatte ich das Arditti Quartet gegründet, um Ligetis Zweites Streichquartett in England zu spielen, weil es dort niemand ernst nahm. Aber ich wäre damals nicht auf die Idee gekommen, dass wir einmal ein international aktives Streichquartett werden würden.
Diese Art von enger Zusammenarbeit ist mittlerweile zu einem Markenzeichen des Ensembles geworden. Wie viel Einfluss haben Sie und Ihre Kollegen auf den Entstehungsprozess neuer Werke?
Anfangs haben wir zusammen mit den Komponist:innen an den bereits fertigen Stücken gearbeitet. Aber einige von ihnen wollten auch Dinge mit uns ausprobieren. Es gibt eine sehr interessante Geschichte zu Helmut Lachenmanns Drittem Streichquartett Grido [von 2001, das zum vielleicht meistgespielten Werk des Ensembles aus dem 21. Jahrhundert geworden ist]. Wir waren in Deutschland und hatten einen Probentag mit Helmut vereinbart, um einige Skizzen mit ihm durchzugehen. Nach der Probe dachte ich, er sei ganz zufrieden, doch dann hörte ich nichts mehr von ihm. Als ich ihn später anrief, sagte mir seine Frau: „Es hat ihm nichts davon gefallen. Er hat alles zerrissen.“ Er fing noch einmal von vorne an, und das Stück wurde unglaublich erfolgreich. Was ich damit sagen will: Es ist nicht nur wunderbar, die Uraufführung eines neuen Werks zu spielen, sondern auch an der Entstehung eines Stücks teilzuhaben, Teil des Schaffensprozesses zu sein.
Bei einer solchen Zusammenarbeit gibt es offenbar ein breites Spektrum an Möglichkeiten: Manche Komponist:innen haben sehr genaue Vorstellungen davon, welche Art Klang sie haben möchten, und sind für Änderungen womöglich gar nicht offen. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die sich Anregungen von Ihnen wünschen und sie einbeziehen. Wie finden Sie heraus, was am besten funktioniert?
Wenn sie nicht selbst Streichinstrumente spielen, weise ich manchmal darauf hin, dass man etwas einfacher machen könnte, als sie es sich vorgestellt haben. Manche möchten, dass wir genau das tun, was sie uns vorgeben. Dazu gehört z.B. Kurtág, den ich sehr bewundere. Er schreibt relativ einfache, aber sehr ausdrucksstarke Musik, bei der er jeden Ton kontrollieren möchte. Ich lasse ihn sehr gern bestimmen, damit seine Musik so klingt, wie er sie sich vorstellt. Aber ich arbeite auch gerne mit Toshio Hosokawa zusammen, der andere Arten von technisch relativ einfacher Musik schreibt, und ebenso gerne mit Komponisten wie Brian Ferneyhough, der in seiner Sprache sehr viel komplexer ist. Wir haben oft mit Elliott Carter zusammengearbeitet und auch mit Xenakis, die auf unterschiedliche Weise komplex komponieren. Ich kann keine bestimmten Höhepunkte aus unseren 50 Jahren benennen. Für mich gilt „Vive la différence“. Fragen Sie mich bitte nicht nach meinem Lieblingskomponisten!
Das werde ich nicht tun – aber ich wüsste gern, nach welchen Kriterien Sie entscheiden, auf welche Komponist:innen Sie sich konzentrieren, insbesondere angesichts der enormen künstlerischen Vielfalt Ihrer Projekte in der Vergangenheit.
Manche Leute glauben, dass ich oder das Quartett darüber immer die Kontrolle haben, aber tatsächlich werden wir oft gebeten, bestimmte Dinge zu spielen. Wenn zum Beispiel jemand ein Ligeti- oder ein Xenakis-Festival veranstaltet, dann spielen wir deren Musik. Oder es kommt ein Konzertveranstalter auf uns zu und fragt, ob wir ein Stück von einer bestimmten Komponistin spielen würden. Oft höre ich auf die Ratschläge von Leuten, die viel Musik von jüngeren Komponist:innen hören, auch wenn ich sie nicht immer kenne. Wir machen gern sehr unterschiedliche Dinge. Mit dem JACK Quartet haben wir vor einigen Jahren ein Coaching gemacht, als die vier noch ganz am Anfang standen, und seitdem haben verschiedene Komponist:innen Oktette für sie und uns geschrieben. Bei einigen ist es uns auch gelungen, dass sie Stücke für Streichquartett und Orchester komponiert haben. Mehrere davon spielen wir in diesem Jahr als Teil unseres 50. Jubiläums.
Wenn Sie auf dieses halbe Jahrhundert zurückblicken und auf die personellen Veränderungen, die es gab – wie haben Sie es geschafft, über all diese Jahre hinweg die Identität des Arditti Quartet zu bewahren?
Viele Mitglieder haben uns aus persönlichen Gründen verlassen, vor allem, weil sie eine Beziehung führen wollten, was aufgrund unserer ständigen Reisen nicht möglich war. Aber die Integration neuer Musiker war eigentlich nie schwierig. Es ist schön, wenn jemand neue Ideen hat und manche Dinge etwas anders spielt. Die Tradition, das zu vermitteln, was der Komponistin oder dem Komponisten vorschwebte, wurde von allen, die dabei waren, kollektiv weitergegeben. Inzwischen bin ich natürlich der Einzige, der die Anfänge noch kennt. Aber meine Kollegen wissen, worum es geht, weil sie mich schon so oft haben sagen hören, wie Ligeti oder Xenakis etwas haben wollten. Das hat sich zur Tradition unserer Spielweise entwickelt.
Wie würden Sie die Veränderungen auf dem Gebiet des Streichquartetts im letzten halben Jahrhundert beschreiben? In jüngerer Zeit gibt es zum Beispiel vermehrt den Wunsch, die Stimmen von Komponistinnen stärker zu berücksichtigen.
In den ersten Jahren hatten wir alle drei Quartette von Sofia Gubaidulina im Repertoire – ihr viertes gab es damals noch nicht. Eines der interessantesten Stücke, das ich jemals gespielt habe, ist String Quartet 1931 von Ruth Crawford Seeger – ein außergewöhnliches, fantastisches Werk, das wir ziemlich häufig aufführen. Auch dieses Jahr spielen wir viel Musik von Komponistinnen. Ich glaube nicht, dass wir jemals irgendjemanden ausgeschlossen haben.
Es ist interessant, dass wir in etwa zur gleichen Zeit wie das Kronos Quartet begonnen haben. Am Anfang gab es eine ganze Reihe von Komponist:innen, die wir beide gespielt haben, aber im Laufe der Jahre sind wir in unterschiedliche Richtungen gegangen. Was die Aufführung neuer Werke und unsere Beziehungen zu ihren Schöpfer:innen angeht, waren sie bei uns zahlreicher als bei jedem anderen Ensemble. Ich möchte nicht behaupten, dass es alles Meisterwerke waren. Aber wir geben allen gern diese vier Saiten und lassen sie damit machen, was sie möchten. Dazu gehören nicht nur die großen Namen, die wir für die interessantesten halten – wir unterstützen auch mit großer Begeisterung junge Leute und veranstalten viele Workshops mit Studierenden.
Mit Ihrem Programm in dieser Jubiläumssaison setzten Sie ein klares Zeichen für die Kontinuität des Arditti Quartet. Damit soll nicht nur die Vergangenheit gefeiert werden – Sie legen auch großen Wert darauf, ganz neue Stücke wie etwa die beiden Auftragskompositionen für dieses Konzert vorzustellen.
An dem Repertoire, für das wir bekannt sind, lässt sich ablesen, was dem Quartett stilistisch gefällt. Wir sind für vieles aufgeschlossen und für manches nicht. Aber in gewisser Weise habe ich momentan Spaß daran, andere Wege zu gehen. Dieses Jahr war es mir besonders wichtig, Stücke von Komponist:innen zu spielen, die noch nie für uns geschrieben haben – wie z.B. Cathy Milliken, Chaya Czernowin, Sarah Nemtsov und Stefan Prins – oder von denen wir noch nie etwas aufgeführt haben. Nur weil es ein Jubiläumsjahr ist, bedeutet das noch lange keinen Schlussstrich. Ich denke nicht: „Wunderbar, wir haben 50 Jahre hinter uns gebracht. Jetzt kann ich mich ausruhen“, sondern: „Lasst uns weitermachen.“
Die Fragen stellte Thomas May.
Zum Programm
Jonathan Harvey
Streichquartett Nr. 1
Der englische Komponist Jonathan Harvey (1939–2012) hatte insbesondere in den Anfangsjahren großen Einfluss auf Irvine Arditti und sein Quartett und war einer der ersten, die das junge Ensemble zu Auftritten einluden. Sein Streichquartett Nr. 1 ist das allererste vom Arditti Quartet in Auftrag gegebene Werk, und diese Zusammenarbeit währte viele Jahre: Harvey schrieb auch seine drei weiteren Quartette für das Ensemble. Das 1977 entstandene und dem Mahler- und Britten-Experten Donald Mitchell gewidmete Streichquartett Nr. 1 wurde im März 1979 an der Universität Southampton uraufgeführt. Das Stück besteht aus einem einzigen Satz und beginnt mit dem, was Harvey an anderer Stelle beschreibt als „Anrufung der Leere durch einen ‚Null-Klang‘ – einen langen, fast eigenschaftslosen Ton oder Klangkomplex“, der für ihn mit dem Prozess der Meditation vergleichbar ist, bei dem man den Geist vom „Trubel eines ereignisreichen Tages“ befreit. In diesem Fall ist es der Klang natürlicher Obertöne, die auf der leeren D-Saite gespielt werden. Auf diesen Beginn, der „die Hörenden in ruhigere Sphären führt“, folgt eine „unschuldige Unisono-Melodie“, aus der sich das gesamte Quartett entwickelt. „Nachdem ich diese Melodie niedergeschrieben hatte, analysierte ich sie (als ersten Schritt aus der Unschuld heraus) und nutzte die zugrunde liegende Struktur, hauptsächlich ein Muster von dominantischen Septimen, um das Stück als Ganzes zu gestalten“, schreibt der Komponist. „Die Melodie gewinnt an Tiefe durch Verzierungen und Verdoppelungen, durch intensive Ausarbeitung der einzelnen Abschnitte (in Passagen, in denen ein Instrument den Ansatz und ein anderes den ausgehaltenen Teil eines Tons spielt) und durch die Aufnahme heftiger emotionaler Ausbrüche.“
Cathy Milliken
In Speak
Die in Berlin lebende Musikerin und Komponistin Cathy Milliken wurde in Brisbane geboren. Sie ist Gründungsmitglied des Ensemble Modern und hat unter anderem mit György Ligeti, Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Fred Frith und Frank Zappa zusammengearbeitet. Ihr umfangreiches Schaffen umfasst Kompositionen für Konzertsaal, Oper, Radio und Film.
Über ihr neues Werk schreibt Milliken: „Es war mir eine besondere Ehre, zu ihrem 50-jährigen Jubiläum ein Stück für meine Freunde vom Arditti Quartet zu schreiben. Vor vielen Jahren hatte ich das große Glück, mit ihnen auf Tournee zu gehen und das Oboenquintett des englischen Komponisten James Clarke zu spielen. Ich erinnere mich an meine Unsicherheit unmittelbar vor dem Tuttieinsatz zu Beginn. Doch schließlich bemerkte ich eine leichte Bewegung in Irvines Schulter – war das der geheime Schlüssel, das rhythmische Einatmen vor dem Auftakt? Ich werde es wohl nie erfahren, denn ich war damals zu scheu und zu wenig vertraut mit dem geheimnisvollen Gehirn eines Streichquartetts, um zu fragen. Und so war es eine reine Freude, die Möglichkeit zu haben, erneut diesem Auftakt nachzuspüren und gemeinsam zu einem musikalischen Abenteuer aufzubrechen.
Wie der Titel In Speak vermuten lässt, verwendet das Stück auch die menschliche Stimme und evoziert den Gedanken eines Gesprächs oder einer Unterhaltung. Den textlichen und dramaturgischen Anhaltspunkt dafür bildet ein Gedicht des Musikers Matthew McDonald mit dem Titel Octopus Rehearsal, das eigens für das Arditti Quartet geschrieben wurde und sich mit den Herausforderungen beim Proben und Aufführen zeitgenössischer Musik als Quartett beschäftigt.
Die Grundstruktur des Stücks beruht auf einer energischen, Hoquetus-artigen Linie, die aus den Namen und Initialen der Quartettmitglieder abgeleitet ist. Sie ist immer wieder zu hören und verbindet die unterschiedlichen Abschnitte choreographierter Klänge. Darüber hinaus tritt jedes Mitglied an bestimmten Stellen mit seiner eigenen kurzen musikalischen Signatur hervor. Der Einsatz der Stimme ist nicht theatralisch gemeint, sondern vielmehr als Erweiterung der Instrumente der Spieler. McDonalds Gedicht ist, so wie es von den Musikern gesprochen wird, absichtlich kaum wahrnehmbar. Der Fokus liegt auf der Artikulation der Worte, ihrer leichten lautlichen Verlagerung, die sich mit der Artikulation des Bogens verbindet. Kurze geflüsterte Silben werden zu Erweiterungen rhythmischer Pizzicati, und gesprochene Vokale vermischen sich mit dem Instrumentalklang zu einer Art mikrotonalem Schleier. Danke, Arditti Quartet, und alles Gute zum 50. Jubiläum!“
Toshio Hosokawa
Oreksis
Geboren 1955 in Hiroshima, ist Toshio Hosokawa in der europäischen Avantgarde seit langem eine feste Größe und insbesondere in der Neue-Musik-Szene in Darmstadt zu Hause (wo das Arditti Quartet bei den Internationalen Ferienkursen von Anfang der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre regelmäßig junge Komponist:innen betreute). Der Schweizer Komponist Klaus Huber ermutigte Hosokowa, sich intensiver mit der Kultur seiner Heimat zu beschäftigen, und so begann er mit dem Studium der traditionellen Musik des japanischen Kaiserhofs, der Kalligrafie und des Zen-Buddhismus. Seine einzigartige Verschmelzung östlicher und westlicher (insbesondere modernistischer) musikalischer Einflüsse brachte ihm Anerkennung als bedeutendster Nachfolger seines Landsmanns Tōru Takemitsu ein.
Zu Oreksis erklärt der Komponist: „Das Stück besteht aus einer einfachen auf- und absteigenden Melodie, die ständig wiederholt wird, sich dabei überkreuzt und allmählich verändert. Es gibt einen Ausgangssakkord, aus dem diese Melodie hervorgeht. Die auf- und absteigenden Formen sind wie Licht und Schatten, wie Yin und Yang, sie bilden ein eigenes musikalisches Universum. Der Titel stammt aus dem Griechischen und bedeutet instinktives Verlangen. Ich habe ihn gewählt, weil ich Musik schreiben möchte, die dem kosmischen Instinkt, dem inneren Verlangen entspricht, die Leere des Daseins zu füllen. Ich möchte eine Musik voller ‚Lieder‘ komponieren, die aus dem Innersten hervorströmen und sich nicht vom Verstand kontrollieren lassen. Dieses Stück entstand auf Wunsch von Irvine Arditti zur Feier des 50-jährigen Bestehens des Arditti Quartet und ist den Musikern der heutigen Uraufführung gewidmet.“
Harrison Birtwistle
The Tree of Strings
Angeregt durch die Zusammenarbeit mit dem Arditti Quartet wandte sich Harrison Birtwistle (1934–2022) erst in einem späten Stadium seiner Laufbahn der Gattung des Streichquartetts zu. Sein erstes großes Quartett ging aus einem Stück hervor, das ursprünglich als Gedenkwerk gedacht war und später zu dem neunsätzigen Instrumental- und Vokalzyklus Pulse Shadows (vollendet 1996) nach Texten von Paul Celan erweitert wurde. Obwohl The Tree of Strings (2007) keinen Text enthält, hat auch dieses halbstündige Quartett einen poetischen Hintergrund. Der Titel entstammt einem Gedicht des schottisch-gälischen Dichters Sorley MacLean, der Anfang des 20. Jahrhunderts in einem streng presbyterianischen Milieu auf der Isle of Raasay (zwischen Skye und der schottischen Westküste) aufwuchs. In den 1970er und 80er Jahren wurde die Insel, deren Name „Insel der Rehe“ bedeutet, für Birtwistle selbst zu einem kreativen Rückzugsort. Unter dem dort herrschenden Presbyterianismus war Musik verboten, und die Insel hatte Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund der Einschränkung traditioneller Landnutzungsrechte einen erheblichen Bevölkerungsverlust erlitten. Birtwistle evoziert diese gespenstische Kulturgeschichte ebenso wie die betörende, unnahbare Schönheit des Ortes. Wie so oft bei diesem Komponisten finden sich Anklänge an ein rätselhaftes Ritual und an „geheimes Theater“ (im Sinne von Birtwistles Ensemblewerk Secret Theatre aus dem Jahr 1984). Bei Aufführungen von The Tree of Strings soll laut Partitur ein Halbkreis aus leeren Stühlen die Gruppe der lebenden und atmenden Musiker umgeben.
Zu Beginn hören wir ein ahnungsvolles Knistern und Rauschen – vielleicht eine andere Form von Meditation –, das den Beginn dieser Reise durch eine eigentümliche Klanglandschaft markiert. Ensemblestellen kontrastieren mit Soloausflügen in Birtwistles immer wieder faszinierend zerklüftetes Labyrinth. Das theatralische Moment von Isolation und spiritueller Verzweiflung in The Tree of Strings gipfelt im allmählichen Abgang des Ensembles von der Bühne, bis schließlich das Cello als einsame, protestierende Stimme zurückbleibt. TM
Thomas May ist Autor, Kritiker, Dozent und Übersetzer. Seine Texte erscheinen in der New York Times, in Gramophone und vielen anderen Publikationen. Er ist verantwortlicher Redakteur für die englischsprachigen Veröffentlichungen des Lucerne Festival und schreibt außerdem Programmeinführungen für das Ojai Festival in Kalifornien.
Arditti Quartet
Das Arditti Quartet zählt seit fast fünf Jahrzehnten zu den profiliertesten Ensembles weltweit für zeitgenössische Musik und Werke des 20. Jahrhunderts. Seit Gründung des Quartetts 1974 durch Irvine Arditti haben die vier Musiker hunderte von Werken zur Uraufführung gebracht, darunter Kompositionen von Benjamin Britten, Elliott Carter, John Cage, György Ligeti, György Kurtág, Karlheinz Stockhausen, Sofia Gubaidulina, Harrison Birtwistle, Helmut Lachenmann, Salvatore Sciarrino, Wolfgang Rihm und Thomas Adès. Das Ensemble ist überzeugt davon, dass eine enge Kooperation mit Komponistinnen und Komponisten wesentlich ist für die Interpretation zeitgenössischer Musik und bemüht sich darum, mit jedem Komponisten zu arbeiten, dessen Werke es spielt. Die maßstabsetzende Arbeit des Arditti Quartet ist auf mehr als 180 Einspielungen dokumentiert. Dazu zählen sämtliche Werke für Streichquartett der Zweiten Wiener Schule und Gesamtaufnahmen der Kammermusik für Streicher von Luciano Berio, Luigi Nono, Helmut Lachenmann und anderen. Das Quartett ist Träger zahlreicher Auszeichnungen, darunter der Deutsche Schallplattenpreis, der Gramophone Award, und der Ernst von Siemens Musikpreis. Im Pierre Boulez Saal war das Ensemble u.a. im April 2018 mit der Uraufführung der vervollständigten Fassung von Boulez’ Livre pour quatuor zu erleben.
Februar 2024
Tomoki Kitamura
Klavier
Der 1991 im japanischen Aichi geborene Tomoki Kitamura gewann bereits im Alter von 14 Jahren den Ersten Preis und den Großen Preis der Jury bei der Tokyo Music Competition; es folgten weitere Auszeichnungen bei den Klavierwettbewerben in Sydney, Leeds und Bonn. Sein Studium absolvierte er bei Kei Itoh, Ewa Pobłocka und Rainer Becker an der Universität der Künste in Berlin sowie in historischer Aufführungspraxis bei Jesper Christensen an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt. Als Solist trat er u.a. mit dem NHK Symphony Orchestra und viele weiteren japanischen Orchestern, dem Hallé Orchestra, dem Beethoven Orchester Bonn und der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz auf. Große Anerkennung erhält er insbesondere für seine Interpretationen zeitgenössischer Musik, darunter Werke von John Cage, Heinz Holliger, Torū Takemitsu und Toshio Hosokawa. Für ein von ihm kuratiertes Konzertprogramm mit Klavierwerken japanischer Komponist:innen der 1950er bis 70er Jahre wurde er 2022 mit dem renommierten Keizo Saji Prize ausgezeichnet.
Februar 2024