Simone Menezes Musikalische Leitung
Simon Scardifield Szenische Einrichtung und Text
Simone Menezes, Lynn Serfaty
Text
Dimitri Gogos Lichtdesign
Maison Rabih Kayrouz und Christian Louboutin Kostümdesign
Golshifteh Farahani Scheherazade
Kristin Winters Dinarzade
Rana Gorgani Tanz
Keyvan Chemirani, Bijan Chemirani Schlaginstrumente

ENSEMBLE K

Simone Menezes Musikalische Leitung

Simon Scardifield Szenische Einrichtung und Text
Simone Menezes, Lynn Serfaty
Text

Dimitri Gogos Lichtdesign
Maison Rabih Kayrouz und Christian Louboutin Kostümdesign

Golshifteh Farahani Scheherazade
Kristin Winters Dinarzade

Rana Gorgani Tanz

Keyvan Chemirani, Bijan Chemirani Schlaginstrumente

ENSEMBLE K
Raquele Magalhães Flöte, Piccoloflöte
Cyril Lefrançois Oboe
Bruno Bonansea Klarinette
Marceau Lefèvre Fagott
Solène Souchères Horn
Pierre Favennec Trompete
Benoit Coutris Posaune
Mara Dobresco Klavier
Christophe Drelich Schlagzeug
Nicolas Dupont, Romuald Grimbert Barré Violine
Clément Holvoet Viola
Kacper Nowak Violoncello
Johane Gonzalez Seijas Kontrabass

Simone Menezes Musikalische Leitung

Simon Scardifield Szenische Einrichtung und Text
Simone Menezes, Lynn Serfaty
Text

Dimitri Gogos Lichtdesign
Maison Rabih Kayrouz und Christian Louboutin Kostümdesign

Golshifteh Farahani Scheherazade
Kristin Winters Dinarzade

Rana Gorgani Tanz

Keyvan Chemirani, Bijan Chemirani Schlaginstrumente

ENSEMBLE K
Raquele Magalhães Flöte, Piccoloflöte
Cyril Lefrançois Oboe
Bruno Bonansea Klarinette
Marceau Lefèvre Fagott
Solène Souchères Horn
Pierre Favennec Trompete
Benoit Coutris Posaune
Mara Dobresco Klavier
Christophe Drelich Schlagzeug
Nicolas Dupont, Romuald Grimbert Barré Violine
Clément Holvoet Viola
Kacper Nowak Violoncello
Johane Gonzalez Seijas Kontrabass

Programm

Scheherazade, a Tale
Uraufführung

Nikolai Rimsky-Korsakow (1844–1908)
Scheherazade
Symphonische Suite op. 35 (1888)
Bearbeitung für Ensemble unter Federführung von Vincent Paulet (2023)
Gesprochene Texte in englischer Sprache

Vorspiel

I. Das Meer und Sindbads Schiff. Largo e maestoso – Allegro non troppo
II. Die Geschichte vom Prinzen Kalender. Lento – Andantino – Allegro molto – Con moto

Zwischenspiel

III. Der junge Prinz und die junge Prinzessin. Andantino quasi allegretto
IV. Fest in Bagdad. Allegro molto – Vivo – Allegro non troppo maestoso

 

Die vier Sätze des Werks wurden bearbeitet von Ana Giurgiu-Bondue (Das Meer und Sindbads Schiff), Pierre-Yves Langlois (Die Geschichte vom Prinzen Kalender), Antony Sauveplane (Der junge Prinz und die junge Prinzessin) sowie Vivien David und Timothée Bonte (Fest in Bagdad).

In Zusammenarbeit mit Cartier

Nikolai Rimsky-Korsakow (1844–1908)
Scheherazade
Symphonische Suite op. 35 (1888)
Bearbeitung für Ensemble unter Federführung von Vincent Paulet (2023)
Gesprochene Texte in englischer Sprache

Vorspiel

I. Das Meer und Sindbads Schiff. Largo e maestoso – Allegro non troppo
II. Die Geschichte vom Prinzen Kalender. Lento – Andantino – Allegro molto – Con moto

Zwischenspiel

III. Der junge Prinz und die junge Prinzessin. Andantino quasi allegretto
IV. Fest in Bagdad. Allegro molto – Vivo – Allegro non troppo maestoso

 

Die vier Sätze des Werks wurden bearbeitet von Ana Giurgiu-Bondue (Das Meer und Sindbads Schiff), Pierre-Yves Langlois (Die Geschichte vom Prinzen Kalender), Antony Sauveplane (Der junge Prinz und die junge Prinzessin) sowie Vivien David und Timothée Bonte (Fest in Bagdad).

In Zusammenarbeit mit Cartier

© Dia al-Azzawi, Shahrazad, 1986
Dia al-Azzawi, The Thousand and One Nights: Shahrazad , 1986 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

Auf der Suche nach Scheherazade

Scheherazade ist nicht nur die Hauptfigur der Geschichtensammlung Tausendundeine Nacht, sie gab auch Nikolai Rimsky-Korsakows 1888 entstandener symphonische Suite ihren Namen. Das beliebte Werk ist inzwischen vom Diskurs über das kolonialistische Bild asiatischer Kulturen eingeholt worden, das Edward W. Said in seinem bahnbrechenden Buch Orientalism beschrieben hat. Simone Menezes und das von ihr gegründete Ensemble K eröffnen nun mit ihrem jüngsten Projekt, das Rimsky-Korsakows Musik im Zusammenspiel mit historischen und zeitgenössischen literarischen Texten präsentiert, neue Perspektiven auf Scheherazade. 

Simone Menezes und Yasmine Seale im Gespräch

Auf der Suche nach Scheherazade 
Simone Menezes und Yasmine Seale im Gespräch

 

Scheherazade ist nicht nur die Hauptfigur der Geschichtensammlung, die unter dem Titel Tausendundeine Nacht bekannt wurde, sie gab auch einem der beliebtesten musikalischen Werke des klassischen Repertoires seinen Namen. Nikolai Rimsky-Korsakows 1888 entstandene symphonische Suite ist inzwischen vom Diskurs über das falsche rassistische und kolonialistische Bild asiatischer Kulturen eingeholt worden, das Edward W. Said 1978 in seinem bahnbrechenden Buch Orientalism beschrieben hat. Simone Menezes und das 2019 von ihr gegründete, international besetzte Kammerorchester Ensemble K eröffnen nun mit ihrem jüngsten Projekt neue Perspektiven auf Scheherazade. 

In früheren Produktionen widmete sich das Ensemble u.a. außereuropäischen Einflüssen in der klassischen Musik oder Komponist:innen, die von „transzendentalem Denken“ inspiriert sind, und ebenso interdisziplinär, ganzheitlich und neugierig nähert es sich der Figur der Scheherazade. Ein neuer dramaturgischer Rahmen, der Rimsky-Korsakows Musik im Zusammenspiel mit historischen und zeitgenössischen literarischen Texten präsentiert, soll die Stereotypen überwinden, die die wirkliche Bedeutung der Titelheldin bisher in den Hintergrund gerückt haben, und dabei zeigen, welche aufklärerische Wirkung sie auch heute noch haben kann. 

Für Menezes, Teil einer Gruppe von Künstler:innen verschiedener Disziplinen, die von der Maison Cartier gefördert werden, ist der Pierre Boulez Saal „genau die richtige Adresse“ für die Uraufführung dieses Projekts, das parallel auch auf CD und DVD veröffentlicht wird – „nicht nur wegen der Verbindung dieses Konzertsaals und der Akademie mit Edward Said, sondern weil hier so viele Geschichten erzählt werden“, wie sie sagt. 

Herzstück von Scheherazade, a Tale ist eine Kammermusikfassung von Rimsky-Korsakows Partitur. Menezes beauftragte den französischen Komponisten Vincent Paulet, der schon mehrfach mit dem Ensemble K zusammenarbeitet hat, das Werk für ein Kammerorchester von 14 Musiker:innen zu bearbeiten und unterstreicht so den intimen Rahmen, in dem Scheherazade ihre Geschichten erzählt. Unter Anleitung Paulets interpretierten fünf seiner Studierenden Rimsky-Korsakows großformatiges Klanggemälde (und Meisterwerk der Instrumentationskunst) für diese nun deutlich intimere Version neu. „In diesem Saal ist niemand weit von den Musiker:innen entfernt, so dass das Publikum das Gefühl hat, sich mitten im Geschehen zu befinden“, erklärt Menezes.

„Dichtung ist immer gegenwärtig, selbst ein Gedicht aus der entfernten Vergangenheit, weil es innerhalb seiner Zeit neu ist und weil wir ihm heute begegnen“, sagt Yasmine Seale, britisch-syrische Lyrikerin, Übersetzerin, Journalistin und Grafikerin, deren neue englische Übersetzung von Tausendundeiner Nacht 2021 erschien. Menezes wählte ihre Übertragung eines arabischen Liebesgedichts als einen der Texte aus, die in Scheherazade, a Tale zu hören sind. Beide Künstlerinnen werden am Vorabend der Aufführung im Rahmen einer Podiumsdiskussion über das Projekt sprechen. (Zu den Teilnehmerinnen zählt außerdem die französische-iranische Autorin Nahal Tajadod, deren Essay zu Scheherazade Sie auf Seite 29 in diesem Heft finden.) Bereits vor einigen Wochen tauschten Simone Menezes und Yasmine Seale ihre Gedanken über die Darstellung Scheherazades und ihre Rolle als starke weibliche Figur aus.

 

Simone Menezes Scheherazade ist der Inbegriff einer Heldin, eine hochbegabte Adelige, die bereit war, ihr Leben zu riskieren, um andere Frauen zu retten. Ihr Schicksal bildet die Rahmenhandlung zu den eigentlichen Geschichten aus Tausendundeiner Nacht: Um sich für die Untreue seiner Frau zu rächen, schlief Sultan Schahriyar jede Nacht mit einer Jungfrau, die er am nächsten Morgen durch seinen Wesir, Scheherazades Vater, töten ließ. Scheherazade heiratete den Sultan freiwillig, in vollem Bewusstsein dessen, dass ihr eigener Vater sie töten würde. Ihre einzige Waffe, ihr einziges Überzeugungsmittel, um am Leben zu bleiben und den Sultan von seinem Wahnsinn zu heilen, ist ihre Intelligenz. Jede Nacht erzählt sie ihm eine Geschichte, die ihn so sehr fesselt, dass er am Tag darauf die Fortsetzung hören muss – deshalb lässt er Scheherazade am Leben. Die Darstellung der Figur veränderte sich allerdings zum Negativen durch Serge Diaghilevs Ballett Schéhérazade, das auf Rimsky-Korsakovs Musik basiert [und bei seiner Uraufführung 1910 als erstes abendfüllendes Ballett der Ballets Russes für eine Sensation sorgte]. Es schafft eine Atmosphäre der Verführung und enthält Scheherazade, entsprechend den europäischen Vorstellungen der Zeit, die Hauptrolle in ihrer Geschichte vor. Wir möchten daraus wieder ein Stück machen, das die wahre Geschichte erzählt und diese unglaubliche Figur erneut ins Gespräch bringt.

Yasmine Seale Was diese negative Veränderung betrifft, sehe ich das genauso. Die Frage, wie man Scheherazade darstellen soll, war schon immer problematisch. Ich glaube, das hat mit dem Text von Tausendundeiner Nacht zu tun. In der Rahmenerzählung, die Scheherazade als Figur einführt, wird sie praktisch nicht beschrieben: „Scheherazade hatte viele Bücher gelesen, wissenschaftliche und philosophische, konnte Gedichte auswendig, hatte Geschichte und Mythologie und die Weisheit der Könige studiert. Und sie hatte gelernt, klar zu denken, tief zu empfinden und genau zu lesen; und eines Tages sagte sie zu ihrem Vater: Lass mich dir erzählen, was mich beschäftigt …“ Sie möchte den Sultan heiraten, um die massenhafte Ermordung von Frauen zu beenden. Sie riskiert also auf außerordentliche Art und Weise ihr Leben und verlässt sich dabei ganz auf ihre Erinnerung und ihre Vorstellungskraft. Man darf nicht vergessen, dass Scheherazade, jenseits des Bildes einer Femme fatale, vor allem eine Lesende ist, die das, was sie gelesen hat, heldenmutig einsetzt, und eine Künstlerin, die unter entsetzlichen, brutalen Bedingungen handelt.

SM Diaghilev bediente den Orientalismus, der beim Pariser Publikum in Mode war. Insbesondere den Nahen Osten stellte man sich vor als einen Ort, an dem Frauen die Rolle der Verführerin spielten. Um dieser Vorstellung zu entsprechen, brachte Diaghilev nicht die Geschichte auf die Bühne, zu der Rimsky-Korsakow seine Musik komponiert hatte, sondern griff nur einen kleinen Teil der Einleitung heraus [die „Vorgeschichte“, die den Zorn des Sultans mit dem Betrug durch seine erste Frau erklärt]. In Russland erregte das Anstoß. Rimsky-Korsakow war bereits [1908] gestorben, aber seine Familie meldete sich zu Wort, weil es nie seine Absicht gewesen war, diese Musik für ein Ballett zu verwenden. Er war ganz offensichtlich mit dem Text von Tausendundeiner Nacht vertraut, in Form der französischen Übersetzung von Antoine Galland, und die Art und Weise, wie er die Themen des ganzen Werks anlegte, zeigt, dass er eine zusammenhängende Geschichte im Sinn hatte, die sich eng an die ursprüngliche anlehnt. Aber der Erfolg von Diaghilevs Ballett prägte ein anderes Bild von Scheherazade, das eine stärkere Wirkung hatte als der Originaltext oder als Rimskys Vorstellungen – was sehr schade ist, weil bis heute keine ausgewogene Sicht auf diese außergewöhnliche Figur existiert.

YS Es ist die große Ausnahme in Tausendundeiner Nacht, dass eine weibliche Heldin ausschließlich anhand ihrer intellektuellen und moralischen Eigenschaften, ihrer inneren Qualitäten, charakterisiert wird. Fast jede andere Figur in den Geschichten wird mit Blick auf ihre Schönheit beschrieben. Scheherazade sticht dadurch heraus, dass sie nicht auf diese Weise dargestellt wird. Gallands Übersetzung aus dem frühen 18. Jahrhundert war die erste Veröffentlichung von Tausendundeiner Nacht in einer europäischen Sprache. Die eben zitierte Passage ergänzte er durch die Anmerkung, Scheherazade sei „eine vollkommene Schönheit“ – doch im arabischen Text steht nichts dergleichen. Diaghilevs Ballett ist eine Fortsetzung dieser Fantasie von einer Frau, die im Schlafgemach als Sexualobjekt gehalten wird. Im Originaltext wird sie dagegen rein als Verstand dargestellt, als eine Art Bibliothek. Das Schöne an Musik ist, dass man diese abstrakte Qualität der Figur, diesen Gemütszustand, einfangen kann, ohne sie physisch darstellen zu müssen. Scheherazade ist eine wirkliche Heldin, aber sie ist auch eine Idee. Für mich repräsentiert sie ein Schöpfungsprinzip, eine Vorstellung davon, was es bedeutet, schöpferisch tätig zu sein, was etwas mit Darstellung zu tun hat. Deshalb finde ich es sehr schön, dass Du eine Theateraufführung entwickelst, denn Scheherazade ist tatsächlich eine darstellende Künstlerin, die wie alle darstellenden Künstler:innen ein Risiko eingeht, wenn sie das Schlafgemach betritt – das ebenso gut eine Bühne sein könnte –, in dem sie dann zu einer gefährlichen Reise aufbricht. Der Einsatz ist für sie extrem hoch. Sie muss die Aufmerksamkeit des Königs fesseln, um jede Nacht etwas Neues bieten zu können.

SM Es gibt in der ursprünglichen Geschichte noch eine weitere Frau: die jüngere Schwester Dinharazade, die von Scheherazade dazu eingeladen wird, jede Nacht ans Fußende des Bettes zu kommen, um sie zu wecken oder sie zu bitten, eine Geschichte zu erzählen. Über diese Figur spricht niemand, aber wir haben uns entschieden, sie zusammen mit Scheherazade auftreten zu lassen. [Die beiden Rollen werden von zwei Schauspielerinnen dargestellt, die die Geschichte zwischen den musikalischen Sätzen in Form eines neuen Texts von Simon Scardifield, Lynn Serfaty und Simone Menezes erzählen.] Scheherazades Geschichten richten sich also eigentlich nicht an den Sultan, sondern an ihre jüngere Schwester. Scheherazade wird als Frau gezeigt, die mithilfe ihrer Intelligenz versucht, für die nachfolgende Generation eine bessere Welt zu schaffen.

YS Dinharazade ist eine sehr interessante Figur, die permanent anwesend ist, aber nie etwas sagt. Scheherazade spricht zu ihrer Schwester, und ihre Schwester hört ihr zu. Dinharazades Rolle besteht darin, dem Sultan zu zeigen, was es bedeutet, ein guter Zuhörer zu sein. Das Problem des Sultans ist, dass er zu schnell reagiert: Er hat entdeckt, dass seine Frau ihn betrogen hat, und statt zu trauern reagiert er mit Massenmord. Er ist nicht imstande, komplexe Gefühle zu ertragen. Dinharazade zeigt ihm, wie man sich mit seinem Urteil zurückhält, wie man einfach zuhört, ohne vorschnell zu handeln. Genau wie Scheherazade ist sie ein Vorbild für ihn. Die zentrale Beziehung ist die zwischen Scheherazade und Dinharazade – ein Solidaritätsverhältnis zwischen Frauen. Der Sultan ist eine dritte Figur, die als Lauschender dargestellt wird. Am Ende jeder Nacht, wenn die Sonne aufgeht, nachdem Scheherazade gesprochen hat, heißt es in der immer gleichen Formulierung: „… und der Morgen graute und unterbrach Scheherazade.“ Und Nacht für Nacht gibt Dinharazade aufs Neue den Anstoß für Scheherazades Erzählung.

SM Ich glaube, die Art und Weise, wie Rimsky-Korsakow dieses Stück komponiert hat, macht sehr deutlich, dass er genau weiß, worum es in dieser Geschichte geht. Der erste Satz zum Beispiel handelt von Sindbad. Er beginnt aber mit einem Violinsolo, das das ganze Stück hindurch die Stimme Scheherazades repräsentiert. Ein sehr lautes Posaunenthema steht für die Stimme des Sultans, und als Scheherazade das erste Mal zu erzählen beginnt, hören wir das Rauschen der Wellen. Dieser Ablauf wiederholt sich bis zum letzten Satz, in dem die Erzählungen übereinandergeschichtet werden – als hätte Scheherazade dem Sultan durch das Vortragen all dieser Geschichten so etwas wie Heilung beschert, und seine Stimme verstummt. Es ist, als wäre sie durch die Vermittlung dieser Wahrheiten in eine Machtposition gelangt und könnte am Ende sagen: „Ich bin frei, aber ich bin immer noch hier.“

YS Das Recht der Frauen, zu reden – und die Frage, was Frauen sagen dürfen – ist einer der Kämpfe, die Scheherazade auszufechten hat. Wie ihre Stimme im Laufe des Stücks immer selbstbewusster wird, ist musikalisch sehr schön zu hören. Ich finde es wunderbar, dass Ihr diese Musik vom großen Orchester auf ein Kammerensemble übertragt. In der Geschichte ist die Kammer der private Raum des Schlafgemachs. Man muss bedenken, dass diese Geschichten nachts erzählt werden. Sie ereignen sich dann, wenn man eigentlich träumt, am Ende der Nacht. Was wir lesen und hören, ist eine Art Traumlandschaft. In all diesen Erzählungen geht es um die Schattenseiten der Psyche, um Ängste und Hirngespinste. Natürlich greifen sie manchmal auch auf das wirkliche Leben zurück – es gibt viele Beispiele für die materielle Kultur der Gesellschaften, aus denen diese Geschichten stammen. Aber all das wird beeinflusst durch die Logik der Vorstellungskraft. Eine Möglichkeit, das Problem der orientalistischen Darstellung zu umgehen, besteht für mich darin, sie wie eine Art Traum zu behandeln.

SM Das Recht, das Wort zu ergreifen und zu behalten, ist für eine Frau sehr wichtig. Bemerkenswert ist, dass Scheherazade dabei von einer anderen Frau unterstützt wird – von Dinharazade, die sie darum bittet, eine Geschichte zu erzählen. Der Sultan fordert sie nicht von sich aus dazu auf, es ist Dinharazade, die sie zum Erzählen bringt. Er ist passiver Zuhörer, der „Heilungsprozess“ verläuft indirekt.

YS Die Kombination aus Musik, Literatur und Dramaturgie bei diesem Projekt ist etwas ganz Wunderbares. Obwohl Tausendundeine Nacht als Text überliefert ist, lässt die Geschichte die bloßen Buchstaben immer wieder hinter sich. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie kein Buch sein will: Sie möchte mehr sein, andere Formen des Ausdrucks finden. Im Lauf der Jahrhunderte haben sich viele Künstler:innen mit Scheherazade identifiziert. Sie steht für die Figur des Künstlers oder der Künstlerin, deren Rede immer davon bedroht ist, unterbrochen zu werden. Was bedeutet der Tod für einen Künstler, was bedeutet der Tod für eine Autorin? Es ist die Drohung, nicht länger gehört zu werden. Wenn wir hier Rimsky-Korsakows Musik spielen, wird er in gewisser Weise wieder lebendig. Wie Scheherazade durch ihre Kunst den Tod abwehrt, hat auch er sich dem Tod widersetzt.

 

Das Gespräch führte Thomas May.
Übersetzung aus dem Englischen: Sylvia Zirden  

 

Thomas May ist Autor, Kritiker, Dozent und Übersetzer. Seine Texte erscheinen in der New York Times, in Gramophone und vielen anderen Publikationen. Er ist verantwortlicher Redakteur für die englischsprachigen Veröffentlichungen des Lucerne Festival und schreibt außerdem Programm- einführungen für das Ojai Festival in Kalifornien. 

Auf der Suche nach Scheherazade 
Simone Menezes und Yasmine Seale im Gespräch

 

Scheherazade ist nicht nur die Hauptfigur der Geschichtensammlung, die unter dem Titel Tausendundeine Nacht bekannt wurde, sie gab auch einem der beliebtesten musikalischen Werke des klassischen Repertoires seinen Namen. Nikolai Rimsky-Korsakows 1888 entstandene symphonische Suite ist inzwischen vom Diskurs über das falsche rassistische und kolonialistische Bild asiatischer Kulturen eingeholt worden, das Edward W. Said 1978 in seinem bahnbrechenden Buch Orientalism beschrieben hat. Simone Menezes und das 2019 von ihr gegründete, international besetzte Kammerorchester Ensemble K eröffnen nun mit ihrem jüngsten Projekt neue Perspektiven auf Scheherazade. 

In früheren Produktionen widmete sich das Ensemble u.a. außereuropäischen Einflüssen in der klassischen Musik oder Komponist:innen, die von „transzendentalem Denken“ inspiriert sind, und ebenso interdisziplinär, ganzheitlich und neugierig nähert es sich der Figur der Scheherazade. Ein neuer dramaturgischer Rahmen, der Rimsky-Korsakows Musik im Zusammenspiel mit historischen und zeitgenössischen literarischen Texten präsentiert, soll die Stereotypen überwinden, die die wirkliche Bedeutung der Titelheldin bisher in den Hintergrund gerückt haben, und dabei zeigen, welche aufklärerische Wirkung sie auch heute noch haben kann. 

Für Menezes, Teil einer Gruppe von Künstler:innen verschiedener Disziplinen, die von der Maison Cartier gefördert werden, ist der Pierre Boulez Saal „genau die richtige Adresse“ für die Uraufführung dieses Projekts, das parallel auch auf CD und DVD veröffentlicht wird – „nicht nur wegen der Verbindung dieses Konzertsaals und der Akademie mit Edward Said, sondern weil hier so viele Geschichten erzählt werden“, wie sie sagt. 

Herzstück von Scheherazade, a Tale ist eine Kammermusikfassung von Rimsky-Korsakows Partitur. Menezes beauftragte den französischen Komponisten Vincent Paulet, der schon mehrfach mit dem Ensemble K zusammenarbeitet hat, das Werk für ein Kammerorchester von 14 Musiker:innen zu bearbeiten und unterstreicht so den intimen Rahmen, in dem Scheherazade ihre Geschichten erzählt. Unter Anleitung Paulets interpretierten fünf seiner Studierenden Rimsky-Korsakows großformatiges Klanggemälde (und Meisterwerk der Instrumentationskunst) für diese nun deutlich intimere Version neu. „In diesem Saal ist niemand weit von den Musiker:innen entfernt, so dass das Publikum das Gefühl hat, sich mitten im Geschehen zu befinden“, erklärt Menezes.

„Dichtung ist immer gegenwärtig, selbst ein Gedicht aus der entfernten Vergangenheit, weil es innerhalb seiner Zeit neu ist und weil wir ihm heute begegnen“, sagt Yasmine Seale, britisch-syrische Lyrikerin, Übersetzerin, Journalistin und Grafikerin, deren neue englische Übersetzung von Tausendundeiner Nacht 2021 erschien. Menezes wählte ihre Übertragung eines arabischen Liebesgedichts als einen der Texte aus, die in Scheherazade, a Tale zu hören sind. Beide Künstlerinnen werden am Vorabend der Aufführung im Rahmen einer Podiumsdiskussion über das Projekt sprechen. (Zu den Teilnehmerinnen zählt außerdem die französische-iranische Autorin Nahal Tajadod, deren Essay zu Scheherazade Sie auf Seite 29 in diesem Heft finden.) Bereits vor einigen Wochen tauschten Simone Menezes und Yasmine Seale ihre Gedanken über die Darstellung Scheherazades und ihre Rolle als starke weibliche Figur aus.

 

Simone Menezes Scheherazade ist der Inbegriff einer Heldin, eine hochbegabte Adelige, die bereit war, ihr Leben zu riskieren, um andere Frauen zu retten. Ihr Schicksal bildet die Rahmenhandlung zu den eigentlichen Geschichten aus Tausendundeiner Nacht: Um sich für die Untreue seiner Frau zu rächen, schlief Sultan Schahriyar jede Nacht mit einer Jungfrau, die er am nächsten Morgen durch seinen Wesir, Scheherazades Vater, töten ließ. Scheherazade heiratete den Sultan freiwillig, in vollem Bewusstsein dessen, dass ihr eigener Vater sie töten würde. Ihre einzige Waffe, ihr einziges Überzeugungsmittel, um am Leben zu bleiben und den Sultan von seinem Wahnsinn zu heilen, ist ihre Intelligenz. Jede Nacht erzählt sie ihm eine Geschichte, die ihn so sehr fesselt, dass er am Tag darauf die Fortsetzung hören muss – deshalb lässt er Scheherazade am Leben. Die Darstellung der Figur veränderte sich allerdings zum Negativen durch Serge Diaghilevs Ballett Schéhérazade, das auf Rimsky-Korsakovs Musik basiert [und bei seiner Uraufführung 1910 als erstes abendfüllendes Ballett der Ballets Russes für eine Sensation sorgte]. Es schafft eine Atmosphäre der Verführung und enthält Scheherazade, entsprechend den europäischen Vorstellungen der Zeit, die Hauptrolle in ihrer Geschichte vor. Wir möchten daraus wieder ein Stück machen, das die wahre Geschichte erzählt und diese unglaubliche Figur erneut ins Gespräch bringt.

Yasmine Seale Was diese negative Veränderung betrifft, sehe ich das genauso. Die Frage, wie man Scheherazade darstellen soll, war schon immer problematisch. Ich glaube, das hat mit dem Text von Tausendundeiner Nacht zu tun. In der Rahmenerzählung, die Scheherazade als Figur einführt, wird sie praktisch nicht beschrieben: „Scheherazade hatte viele Bücher gelesen, wissenschaftliche und philosophische, konnte Gedichte auswendig, hatte Geschichte und Mythologie und die Weisheit der Könige studiert. Und sie hatte gelernt, klar zu denken, tief zu empfinden und genau zu lesen; und eines Tages sagte sie zu ihrem Vater: Lass mich dir erzählen, was mich beschäftigt …“ Sie möchte den Sultan heiraten, um die massenhafte Ermordung von Frauen zu beenden. Sie riskiert also auf außerordentliche Art und Weise ihr Leben und verlässt sich dabei ganz auf ihre Erinnerung und ihre Vorstellungskraft. Man darf nicht vergessen, dass Scheherazade, jenseits des Bildes einer Femme fatale, vor allem eine Lesende ist, die das, was sie gelesen hat, heldenmutig einsetzt, und eine Künstlerin, die unter entsetzlichen, brutalen Bedingungen handelt.

SM Diaghilev bediente den Orientalismus, der beim Pariser Publikum in Mode war. Insbesondere den Nahen Osten stellte man sich vor als einen Ort, an dem Frauen die Rolle der Verführerin spielten. Um dieser Vorstellung zu entsprechen, brachte Diaghilev nicht die Geschichte auf die Bühne, zu der Rimsky-Korsakow seine Musik komponiert hatte, sondern griff nur einen kleinen Teil der Einleitung heraus [die „Vorgeschichte“, die den Zorn des Sultans mit dem Betrug durch seine erste Frau erklärt]. In Russland erregte das Anstoß. Rimsky-Korsakow war bereits [1908] gestorben, aber seine Familie meldete sich zu Wort, weil es nie seine Absicht gewesen war, diese Musik für ein Ballett zu verwenden. Er war ganz offensichtlich mit dem Text von Tausendundeiner Nacht vertraut, in Form der französischen Übersetzung von Antoine Galland, und die Art und Weise, wie er die Themen des ganzen Werks anlegte, zeigt, dass er eine zusammenhängende Geschichte im Sinn hatte, die sich eng an die ursprüngliche anlehnt. Aber der Erfolg von Diaghilevs Ballett prägte ein anderes Bild von Scheherazade, das eine stärkere Wirkung hatte als der Originaltext oder als Rimskys Vorstellungen – was sehr schade ist, weil bis heute keine ausgewogene Sicht auf diese außergewöhnliche Figur existiert.

YS Es ist die große Ausnahme in Tausendundeiner Nacht, dass eine weibliche Heldin ausschließlich anhand ihrer intellektuellen und moralischen Eigenschaften, ihrer inneren Qualitäten, charakterisiert wird. Fast jede andere Figur in den Geschichten wird mit Blick auf ihre Schönheit beschrieben. Scheherazade sticht dadurch heraus, dass sie nicht auf diese Weise dargestellt wird. Gallands Übersetzung aus dem frühen 18. Jahrhundert war die erste Veröffentlichung von Tausendundeiner Nacht in einer europäischen Sprache. Die eben zitierte Passage ergänzte er durch die Anmerkung, Scheherazade sei „eine vollkommene Schönheit“ – doch im arabischen Text steht nichts dergleichen. Diaghilevs Ballett ist eine Fortsetzung dieser Fantasie von einer Frau, die im Schlafgemach als Sexualobjekt gehalten wird. Im Originaltext wird sie dagegen rein als Verstand dargestellt, als eine Art Bibliothek. Das Schöne an Musik ist, dass man diese abstrakte Qualität der Figur, diesen Gemütszustand, einfangen kann, ohne sie physisch darstellen zu müssen. Scheherazade ist eine wirkliche Heldin, aber sie ist auch eine Idee. Für mich repräsentiert sie ein Schöpfungsprinzip, eine Vorstellung davon, was es bedeutet, schöpferisch tätig zu sein, was etwas mit Darstellung zu tun hat. Deshalb finde ich es sehr schön, dass Du eine Theateraufführung entwickelst, denn Scheherazade ist tatsächlich eine darstellende Künstlerin, die wie alle darstellenden Künstler:innen ein Risiko eingeht, wenn sie das Schlafgemach betritt – das ebenso gut eine Bühne sein könnte –, in dem sie dann zu einer gefährlichen Reise aufbricht. Der Einsatz ist für sie extrem hoch. Sie muss die Aufmerksamkeit des Königs fesseln, um jede Nacht etwas Neues bieten zu können.

SM Es gibt in der ursprünglichen Geschichte noch eine weitere Frau: die jüngere Schwester Dinharazade, die von Scheherazade dazu eingeladen wird, jede Nacht ans Fußende des Bettes zu kommen, um sie zu wecken oder sie zu bitten, eine Geschichte zu erzählen. Über diese Figur spricht niemand, aber wir haben uns entschieden, sie zusammen mit Scheherazade auftreten zu lassen. [Die beiden Rollen werden von zwei Schauspielerinnen dargestellt, die die Geschichte zwischen den musikalischen Sätzen in Form eines neuen Texts von Simon Scardifield, Lynn Serfaty und Simone Menezes erzählen.] Scheherazades Geschichten richten sich also eigentlich nicht an den Sultan, sondern an ihre jüngere Schwester. Scheherazade wird als Frau gezeigt, die mithilfe ihrer Intelligenz versucht, für die nachfolgende Generation eine bessere Welt zu schaffen.

YS Dinharazade ist eine sehr interessante Figur, die permanent anwesend ist, aber nie etwas sagt. Scheherazade spricht zu ihrer Schwester, und ihre Schwester hört ihr zu. Dinharazades Rolle besteht darin, dem Sultan zu zeigen, was es bedeutet, ein guter Zuhörer zu sein. Das Problem des Sultans ist, dass er zu schnell reagiert: Er hat entdeckt, dass seine Frau ihn betrogen hat, und statt zu trauern reagiert er mit Massenmord. Er ist nicht imstande, komplexe Gefühle zu ertragen. Dinharazade zeigt ihm, wie man sich mit seinem Urteil zurückhält, wie man einfach zuhört, ohne vorschnell zu handeln. Genau wie Scheherazade ist sie ein Vorbild für ihn. Die zentrale Beziehung ist die zwischen Scheherazade und Dinharazade – ein Solidaritätsverhältnis zwischen Frauen. Der Sultan ist eine dritte Figur, die als Lauschender dargestellt wird. Am Ende jeder Nacht, wenn die Sonne aufgeht, nachdem Scheherazade gesprochen hat, heißt es in der immer gleichen Formulierung: „… und der Morgen graute und unterbrach Scheherazade.“ Und Nacht für Nacht gibt Dinharazade aufs Neue den Anstoß für Scheherazades Erzählung.

SM Ich glaube, die Art und Weise, wie Rimsky-Korsakow dieses Stück komponiert hat, macht sehr deutlich, dass er genau weiß, worum es in dieser Geschichte geht. Der erste Satz zum Beispiel handelt von Sindbad. Er beginnt aber mit einem Violinsolo, das das ganze Stück hindurch die Stimme Scheherazades repräsentiert. Ein sehr lautes Posaunenthema steht für die Stimme des Sultans, und als Scheherazade das erste Mal zu erzählen beginnt, hören wir das Rauschen der Wellen. Dieser Ablauf wiederholt sich bis zum letzten Satz, in dem die Erzählungen übereinandergeschichtet werden – als hätte Scheherazade dem Sultan durch das Vortragen all dieser Geschichten so etwas wie Heilung beschert, und seine Stimme verstummt. Es ist, als wäre sie durch die Vermittlung dieser Wahrheiten in eine Machtposition gelangt und könnte am Ende sagen: „Ich bin frei, aber ich bin immer noch hier.“

YS Das Recht der Frauen, zu reden – und die Frage, was Frauen sagen dürfen – ist einer der Kämpfe, die Scheherazade auszufechten hat. Wie ihre Stimme im Laufe des Stücks immer selbstbewusster wird, ist musikalisch sehr schön zu hören. Ich finde es wunderbar, dass Ihr diese Musik vom großen Orchester auf ein Kammerensemble übertragt. In der Geschichte ist die Kammer der private Raum des Schlafgemachs. Man muss bedenken, dass diese Geschichten nachts erzählt werden. Sie ereignen sich dann, wenn man eigentlich träumt, am Ende der Nacht. Was wir lesen und hören, ist eine Art Traumlandschaft. In all diesen Erzählungen geht es um die Schattenseiten der Psyche, um Ängste und Hirngespinste. Natürlich greifen sie manchmal auch auf das wirkliche Leben zurück – es gibt viele Beispiele für die materielle Kultur der Gesellschaften, aus denen diese Geschichten stammen. Aber all das wird beeinflusst durch die Logik der Vorstellungskraft. Eine Möglichkeit, das Problem der orientalistischen Darstellung zu umgehen, besteht für mich darin, sie wie eine Art Traum zu behandeln.

SM Das Recht, das Wort zu ergreifen und zu behalten, ist für eine Frau sehr wichtig. Bemerkenswert ist, dass Scheherazade dabei von einer anderen Frau unterstützt wird – von Dinharazade, die sie darum bittet, eine Geschichte zu erzählen. Der Sultan fordert sie nicht von sich aus dazu auf, es ist Dinharazade, die sie zum Erzählen bringt. Er ist passiver Zuhörer, der „Heilungsprozess“ verläuft indirekt.

YS Die Kombination aus Musik, Literatur und Dramaturgie bei diesem Projekt ist etwas ganz Wunderbares. Obwohl Tausendundeine Nacht als Text überliefert ist, lässt die Geschichte die bloßen Buchstaben immer wieder hinter sich. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie kein Buch sein will: Sie möchte mehr sein, andere Formen des Ausdrucks finden. Im Lauf der Jahrhunderte haben sich viele Künstler:innen mit Scheherazade identifiziert. Sie steht für die Figur des Künstlers oder der Künstlerin, deren Rede immer davon bedroht ist, unterbrochen zu werden. Was bedeutet der Tod für einen Künstler, was bedeutet der Tod für eine Autorin? Es ist die Drohung, nicht länger gehört zu werden. Wenn wir hier Rimsky-Korsakows Musik spielen, wird er in gewisser Weise wieder lebendig. Wie Scheherazade durch ihre Kunst den Tod abwehrt, hat auch er sich dem Tod widersetzt.

 

Das Gespräch führte Thomas May.
Übersetzung aus dem Englischen: Sylvia Zirden  

 

Thomas May ist Autor, Kritiker, Dozent und Übersetzer. Seine Texte erscheinen in der New York Times, in Gramophone und vielen anderen Publikationen. Er ist verantwortlicher Redakteur für die englischsprachigen Veröffentlichungen des Lucerne Festival und schreibt außerdem Programm- einführungen für das Ojai Festival in Kalifornien. 

Ce que femme veut

Als ich klein war, stellte ich mir Scheherazade als Tante vor – eine aufgeweckte Tante, die den Schalk hinter den Ohren hat. Heute sehe ich sie als Nichte – rebellisch, unbezwingbar und zum Staunen. Sie hat der persischen Kultur ihren Stempel aufgedrückt. Diese fiktive Frau spricht stellvertretend für eine Schar von indischen, persischen und arabischen Verfassern, die durch sie hindurch der Tradition den Kampf ansagen, und wird zur erfolgreichen Lebensretterin für sich selbst und für ihresgleichen.

Essay von Nahal Tajadod

Ce que femme veut* 

Nahal Tajadod

 

Als ich klein war, stellte ich mir Scheherazade (für uns Iranerinnen und Iraner heißt sie Shahrzad) als Tante vor – eine aufgeweckte Tante, die den Schalk hinter den Ohren hat. Heute sehe ich sie als Nichte – rebellisch, unbezwingbar und zum Staunen. Sie hat der persischen Kultur ihren Stempel aufgedrückt. Ich habe Freundinnen, die ihren Namen tragen, ich laufe durch Scheherazade-Straßen, trinke Scheherazade-Tee, beneide sie um ihre Fantasie und ihre Bildung. Sie ist Teil unseres Alltags und löst in uns ein Gefühl der Verunsicherung aus.

Erinnern wir uns: Scheherazade bietet sich dem Sultan Schahriyar als Opfer an. Der hatte beschlossen, aus Rache für die Untreue seiner Gattin jeden Morgen die Frau, die er sich am Vorabend zur Gefährtin genommen hatte, umzubringen. 1001 endlose Nächte lang hält Scheherazade die drohende Gefahr von sich fern. Wie gelingt ihr das, obwohl ihre Vorgängerinnen ebenso schön und von ebenso edler Abstammung waren wie sie? Der Unterschied liegt darin, dass Scheherazade gebildet, eloquent, gelehrt ist. „Sie besitzt eintausend Geschichtsbücher und hat sie alle gelesen.“

Diese fiktive Frau spricht stellvertretend für eine Schar von indischen, persischen und arabischen Verfassern, die durch sie hindurch der Tradition den Kampf ansagen, und wird zur erfolgreichen Lebensretterin für sich selbst und für ihresgleichen. Sie vermittelt Schahriyar das ganze Wissen, das ihm fehlt und das sie sich angeeignet hat. Sie will den König dazu bringen, dass er sein negatives Frauenbild revidiert. Dieses Frauenbild, das er unreflektiert aus Tradition übernommen hat, ist durch seine schlechten persönlichen Erfahrungen noch extremer geworden. Scheherazades Adressat ist zum einen Schahriyar und zum anderen ein imaginäres Publikum. Bei beiden bewirkt sie einen umfassenden Sinneswandel, indem sie erzählend eine Vielzahl von Frauen portraitiert und vor allem eine neue Vorstellung ins Spiel bringt: Individualität.

Um das Vertrauen des Königs zu gewinnen, dichtet sie den Frauen alle möglichen Defizite an und referiert zunächst Märchen „aus der überlieferten Tradition“, um den Herrscher zu beruhigen. Doch wer genau hinhört, registriert unter den anklagenden Worten, was sie zwischen den Zeilen im Flüsterton zu verstehen gibt: „Er hat keine Ahnung, dass eine von uns Frauen, die sich etwas sehnlich wünscht, durch nichts zu besiegen ist.“ Erst ganz am Ende des Buches stoßen wir auf ihre Erklärung, die an das muslimische Glaubensbekenntnis erinnert: „Es gibt keinen Gott außer Allah“, was mit anderen Worten aber heißt: „Als noch nichts existierte, gab es schon die Liebe. Sie ist das Erste und das Letzte.“

Eines Nachts erzählt sie dem Sultan von einer Frau namens Anis al-Dschalis, die „Kalligrafie, Grammatik und Syntax studiert hat, Rechtswissenschaften, Ethik und Philosophie, Geometrie, Medizin und die Lehre von der Erdvermessung.“ Am meisten aber glänzt Anis al-Dschalis in der Dichtkunst, in Musik, Gesang und Tanz. Scheherazade berichtet auch von Dichterinnen wie Tumādir al-Chansa. Sie hat als Totengesang für ihren verstorbenen Bruder das Lied „Weint, meine Augen“ komponiert, das alle Welt vor sich hin summt und das ihre Zeitgenossen als ein Werk preisen, das mit seiner „ poetischen Kraft die Männer und die Dschinn in den Schatten stellt!“ Oder Nu’m, die die Gabe besitzt, mit nichts als dem Anfangsvers eines Liedes eine ganze Nacht mit improvisierten Variationen zu bestreiten. Oder Tuhfa, die virtuos auf der Laute spielt und ihr Instrument an ihre Brust anlegt wie ein Schwan, der den Kopf unter den Flügel steckt. Oder Morgiana, die mit Schals, Tüchern und Stäben die Tänze der Jüdinnen, Griechinnen, Äthiopierinnen, Perserinnen und Beduininnen aufführt. Oder die beredte Hama, die „Meisterin aller Meisterinnen“ genannt wird und von Land zu Land reist, um noch mehr über Wissenschaften, Jurisprudenz, Theologie und die schöne Literatur zu erfahren und mit ihrem eigenen Wissen Rede und Antwort zu stehen. Oder Tawaddud, die auf Geheiß des Kalifen Harun zu einem Wissenswettstreit gegen den weisesten Gelehrten Bagdads antritt.

Scheherazade führt vor, dass Frauen in der Lage sind, Staaten zu lenken, Kriege zu führen, die Welt zu bereisen, auf Seewegen sicher ans Ziel zu kommen. Als eine ihrer Heldinnen, Mariam, sich den Feinden entgegenstellt, um ihren Geliebten zu retten, kann Scheherazade nicht mehr an sich halten: „Sie und ihr Pferd waren nur noch ein Körper. Wenn Mariam ihre Lanze in den Boden rammte, war sie unverrückbar wie ein Gebirge und stand so unbeweglich da wie das Schicksal.“ Die listige Dalila, die die Brieftauben des Sultans abrichtet, „begibt sich jeden Tag zu Pferde zum Palast, trägt dabei den Goldhelm mit der Silbertaube auf dem Haupt und lässt sich von ihren 40 in rote Seide und Brokat gekleideten Sklaven eskortieren.“ Jasmin wird von ihrem Gatten verstoßen, geht in die Fremde, lässt sich einen Palast bauen und besteigt den Thron – in Männerkleidern.

In diesem Buch, das eine Art Weltspiegel ist, stellt Scheherazade die Poesie in den Mittelpunkt. Ab der dritten Nacht bildet sie den roten Faden des Romans. In der 1001. Nacht gründet Scheherazade als verliebte Gattin und dreifache Mutter eine Familie, aber ihr Sieg – abgesehen davon, dass sie immer noch am Leben ist – besteht darin, dass Schahriyar nun seinen Bruder ebenso unterweisen will, wie er selbst unterwiesen wurde. Scheherazades Widerstand hat aus dem Barbaren einen zivilisierten Menschen gemacht.

Seit der Entstehung von Tausendundeiner Nacht wird die durch Wissen erarbeitete Macht der Frauen permanent bedroht, angegriffen und unterdrückt. Eine Frau, die lernen und dazu noch tanzen, singen, ein Instrument spielen oder über den eigenen Körper bestimmen will, hat einen schweren Stand. Im 12. Jahrhundert trat die persischsprachige Dichterin Mahsati in Scheherazades Fußstapfen. Sie wurde offizielle Sängerin am Hof des Sultans von Ghazna, sprach über die sinnliche Liebe und wurde verfolgt, weil sie sich gegen Unwissenheit und Borniertheit auflehnte. Mit ihrem Beinamen Shahr Âshub („ Tumult in der Stadt“) ist sie die fleischgewordene Verkörperung ihrer berühmten Schwester Shahr Zâd („Die in der Stadt Geborene“).

Als später im 19. Jahrhundert die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht in Ägypten gedruckt wurden (1835 im Verlag Bulaq), begaben die Honoratioren und Geistlichen in Kairo sich zur Lektüre in eigens hierfür vorgesehene Gästehäuser. Frauen hatten natürlich ebenso wenig Zutritt wie Männer aus dem Volk, denn nur den hohen Herren traute man zu, die Erzählungen verstehen und würdigen zu können. Die gebildeten Damen liehen sich Exemplare der – vielbändigen und entsprechend kostspieligen – Bulaq-Ausgabe und lasen sie in den eigenen vier Wänden bei Soireen, an denen nur Frauen teilnahmen, gut abgeschirmt gegen neugierige Blicke. Ein weiteres Kapitel des Widerstands.

Ebenfalls im 19. Jahrhundert veranstalteten Frauen im Iran geheime Zusammenkünfte, um – als Männer verkleidet – Tausendundeine Nacht zu lesen und szenisch nachzuspielen. Ein Fluch drohte angeblich jeder Frau, die das Buch bis zur 1001. Nacht las. Der Tod erwartete sie, sobald der letzte Tag anbrach. Noch nach Jahrhunderten wurden Leserinnen von Tausendundeiner Nacht wahllos getötet von Männern, die ebenso rigoros waren wie Schahriyar.

1848 nahm eine iranische Dichterin und Theologin namens Táhirih in aller Öffentlichkeit ihren Schleier ab – eine beispiellose Provokation. Ein Augenzeuge war so entsetzt, dass er versuchte, sich die Kehle durchzuschneiden. Das hinderte die Rebellin nicht, dem Mann lautstark zuzurufen: „Nun schau dir mein Gesicht mit dem Auge deines Herzens an / Und sieh das Antlitz Gottes, befreit von jedem Schleier.“ Sie wurde verhaftet und im Alter von 35 Jahren zum Tode verurteilt. Doch ihre Botschaft wurde von einer anderen Frau im Iran weitergetragen: Forugh Farrochzad. Sie hatte in den 1960er Jahren den Mut, in ihren Gedichten über den eigenen Körper und die eigenen Begierden zu sprechen. Farrochzad, die an den Folgen eines Verkehrsunfalls starb, wurde zur Ikone und ihre Dichtung zum Allgemeingut. Ein weiteres Mal: Widerstand. Kurz vor der Jahrtausendwende richtete in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban eine Gruppe von Frauen und Männern im Keller eines Gebäudes in Herat ein Schneideratelier ein. Sie gaben ihm den Namen Suzan talayi („ Der goldene Fingerhut“), hüllten sich in Burkas, packten Scheren und Schnittmuster und vor allem Schreibhefte und Stifte ein. Draußen vor dem Haus ließen sie ihre Kinder Wache stehen, drinnen trafen sie sich – zum Lesen. Sie lasen Shakespeare und Joyce. Auf den Gedanken gebracht hatten sie die geheimen Tausendundeine Nacht-Lesezirkel, die es im Iran des 19. Jahrhunderts gab. Das Schneideratelier wurde durch eine Bombe zerstört. Die Mitglieder des Lesekreises starben durch die Detonation, nur vier von ihnen überlebten. Eine davon ist die Dichterin Nadia Anjuman (1981–2005), die später von ihrem Ehemann erschlagen wurde. Sie gilt als Alter ego von Forugh Farrochzad (1934–1967), Táhirih (1817–1852), Mahsati (1113–1206) und sehr vielen weiteren Frauen, die bedroht wurden und werden, und natürlich auch von Scheherazade – jener Schwester aller Schwestern, die mit Hilfe von Worten dem Tod entging. Und die uns die Schlüssel des Widerstands in die Hand gegeben hat. Lasst uns ihr lauschen, Nacht für Nacht.

 

*Der französische Ausdruck „ce que femme veut, Dieu le veut“ lässt sich übersetzen mit „was eine Frau will, das will Gott“.

 

Übersetzung aus dem Französischen: Andreas Bredenfeld 

Nahal Tajadod wurde in Teheran geboren und übersiedelte im Alter von 17 Jahren nach Paris. Gemeinsam mit Jean-Claude Carrière übersetzte sie 100 Gedichte von Rumi ins Französische; außerdem veröffentlichte sie Roumi le brûlé, eine Biografie des großen Mystikers, und einen Roman, der auf 36 Erzählungen aus seinem bedeutendsten Werk, dem Masnawi, basiert. Zu ihren weiteren Buchveröffentlichungen zählen Passeport à l’iranienne, Debout sur la terre, Elle joue, Les simples prétextes du bonheur und zuletzt L’Affamé über das Leben von Schams-e Tabrizi, dem spirituellen Mentor Rumis. 

Ce que femme veut* 

Nahal Tajadod

 

Als ich klein war, stellte ich mir Scheherazade (für uns Iranerinnen und Iraner heißt sie Shahrzad) als Tante vor – eine aufgeweckte Tante, die den Schalk hinter den Ohren hat. Heute sehe ich sie als Nichte – rebellisch, unbezwingbar und zum Staunen. Sie hat der persischen Kultur ihren Stempel aufgedrückt. Ich habe Freundinnen, die ihren Namen tragen, ich laufe durch Scheherazade-Straßen, trinke Scheherazade-Tee, beneide sie um ihre Fantasie und ihre Bildung. Sie ist Teil unseres Alltags und löst in uns ein Gefühl der Verunsicherung aus.

Erinnern wir uns: Scheherazade bietet sich dem Sultan Schahriyar als Opfer an. Der hatte beschlossen, aus Rache für die Untreue seiner Gattin jeden Morgen die Frau, die er sich am Vorabend zur Gefährtin genommen hatte, umzubringen. 1001 endlose Nächte lang hält Scheherazade die drohende Gefahr von sich fern. Wie gelingt ihr das, obwohl ihre Vorgängerinnen ebenso schön und von ebenso edler Abstammung waren wie sie? Der Unterschied liegt darin, dass Scheherazade gebildet, eloquent, gelehrt ist. „Sie besitzt eintausend Geschichtsbücher und hat sie alle gelesen.“

Diese fiktive Frau spricht stellvertretend für eine Schar von indischen, persischen und arabischen Verfassern, die durch sie hindurch der Tradition den Kampf ansagen, und wird zur erfolgreichen Lebensretterin für sich selbst und für ihresgleichen. Sie vermittelt Schahriyar das ganze Wissen, das ihm fehlt und das sie sich angeeignet hat. Sie will den König dazu bringen, dass er sein negatives Frauenbild revidiert. Dieses Frauenbild, das er unreflektiert aus Tradition übernommen hat, ist durch seine schlechten persönlichen Erfahrungen noch extremer geworden. Scheherazades Adressat ist zum einen Schahriyar und zum anderen ein imaginäres Publikum. Bei beiden bewirkt sie einen umfassenden Sinneswandel, indem sie erzählend eine Vielzahl von Frauen portraitiert und vor allem eine neue Vorstellung ins Spiel bringt: Individualität.

Um das Vertrauen des Königs zu gewinnen, dichtet sie den Frauen alle möglichen Defizite an und referiert zunächst Märchen „aus der überlieferten Tradition“, um den Herrscher zu beruhigen. Doch wer genau hinhört, registriert unter den anklagenden Worten, was sie zwischen den Zeilen im Flüsterton zu verstehen gibt: „Er hat keine Ahnung, dass eine von uns Frauen, die sich etwas sehnlich wünscht, durch nichts zu besiegen ist.“ Erst ganz am Ende des Buches stoßen wir auf ihre Erklärung, die an das muslimische Glaubensbekenntnis erinnert: „Es gibt keinen Gott außer Allah“, was mit anderen Worten aber heißt: „Als noch nichts existierte, gab es schon die Liebe. Sie ist das Erste und das Letzte.“

Eines Nachts erzählt sie dem Sultan von einer Frau namens Anis al-Dschalis, die „Kalligrafie, Grammatik und Syntax studiert hat, Rechtswissenschaften, Ethik und Philosophie, Geometrie, Medizin und die Lehre von der Erdvermessung.“ Am meisten aber glänzt Anis al-Dschalis in der Dichtkunst, in Musik, Gesang und Tanz. Scheherazade berichtet auch von Dichterinnen wie Tumādir al-Chansa. Sie hat als Totengesang für ihren verstorbenen Bruder das Lied „Weint, meine Augen“ komponiert, das alle Welt vor sich hin summt und das ihre Zeitgenossen als ein Werk preisen, das mit seiner „ poetischen Kraft die Männer und die Dschinn in den Schatten stellt!“ Oder Nu’m, die die Gabe besitzt, mit nichts als dem Anfangsvers eines Liedes eine ganze Nacht mit improvisierten Variationen zu bestreiten. Oder Tuhfa, die virtuos auf der Laute spielt und ihr Instrument an ihre Brust anlegt wie ein Schwan, der den Kopf unter den Flügel steckt. Oder Morgiana, die mit Schals, Tüchern und Stäben die Tänze der Jüdinnen, Griechinnen, Äthiopierinnen, Perserinnen und Beduininnen aufführt. Oder die beredte Hama, die „Meisterin aller Meisterinnen“ genannt wird und von Land zu Land reist, um noch mehr über Wissenschaften, Jurisprudenz, Theologie und die schöne Literatur zu erfahren und mit ihrem eigenen Wissen Rede und Antwort zu stehen. Oder Tawaddud, die auf Geheiß des Kalifen Harun zu einem Wissenswettstreit gegen den weisesten Gelehrten Bagdads antritt.

Scheherazade führt vor, dass Frauen in der Lage sind, Staaten zu lenken, Kriege zu führen, die Welt zu bereisen, auf Seewegen sicher ans Ziel zu kommen. Als eine ihrer Heldinnen, Mariam, sich den Feinden entgegenstellt, um ihren Geliebten zu retten, kann Scheherazade nicht mehr an sich halten: „Sie und ihr Pferd waren nur noch ein Körper. Wenn Mariam ihre Lanze in den Boden rammte, war sie unverrückbar wie ein Gebirge und stand so unbeweglich da wie das Schicksal.“ Die listige Dalila, die die Brieftauben des Sultans abrichtet, „begibt sich jeden Tag zu Pferde zum Palast, trägt dabei den Goldhelm mit der Silbertaube auf dem Haupt und lässt sich von ihren 40 in rote Seide und Brokat gekleideten Sklaven eskortieren.“ Jasmin wird von ihrem Gatten verstoßen, geht in die Fremde, lässt sich einen Palast bauen und besteigt den Thron – in Männerkleidern.

In diesem Buch, das eine Art Weltspiegel ist, stellt Scheherazade die Poesie in den Mittelpunkt. Ab der dritten Nacht bildet sie den roten Faden des Romans. In der 1001. Nacht gründet Scheherazade als verliebte Gattin und dreifache Mutter eine Familie, aber ihr Sieg – abgesehen davon, dass sie immer noch am Leben ist – besteht darin, dass Schahriyar nun seinen Bruder ebenso unterweisen will, wie er selbst unterwiesen wurde. Scheherazades Widerstand hat aus dem Barbaren einen zivilisierten Menschen gemacht.

Seit der Entstehung von Tausendundeiner Nacht wird die durch Wissen erarbeitete Macht der Frauen permanent bedroht, angegriffen und unterdrückt. Eine Frau, die lernen und dazu noch tanzen, singen, ein Instrument spielen oder über den eigenen Körper bestimmen will, hat einen schweren Stand. Im 12. Jahrhundert trat die persischsprachige Dichterin Mahsati in Scheherazades Fußstapfen. Sie wurde offizielle Sängerin am Hof des Sultans von Ghazna, sprach über die sinnliche Liebe und wurde verfolgt, weil sie sich gegen Unwissenheit und Borniertheit auflehnte. Mit ihrem Beinamen Shahr Âshub („ Tumult in der Stadt“) ist sie die fleischgewordene Verkörperung ihrer berühmten Schwester Shahr Zâd („Die in der Stadt Geborene“).

Als später im 19. Jahrhundert die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht in Ägypten gedruckt wurden (1835 im Verlag Bulaq), begaben die Honoratioren und Geistlichen in Kairo sich zur Lektüre in eigens hierfür vorgesehene Gästehäuser. Frauen hatten natürlich ebenso wenig Zutritt wie Männer aus dem Volk, denn nur den hohen Herren traute man zu, die Erzählungen verstehen und würdigen zu können. Die gebildeten Damen liehen sich Exemplare der – vielbändigen und entsprechend kostspieligen – Bulaq-Ausgabe und lasen sie in den eigenen vier Wänden bei Soireen, an denen nur Frauen teilnahmen, gut abgeschirmt gegen neugierige Blicke. Ein weiteres Kapitel des Widerstands.

Ebenfalls im 19. Jahrhundert veranstalteten Frauen im Iran geheime Zusammenkünfte, um – als Männer verkleidet – Tausendundeine Nacht zu lesen und szenisch nachzuspielen. Ein Fluch drohte angeblich jeder Frau, die das Buch bis zur 1001. Nacht las. Der Tod erwartete sie, sobald der letzte Tag anbrach. Noch nach Jahrhunderten wurden Leserinnen von Tausendundeiner Nacht wahllos getötet von Männern, die ebenso rigoros waren wie Schahriyar.

1848 nahm eine iranische Dichterin und Theologin namens Táhirih in aller Öffentlichkeit ihren Schleier ab – eine beispiellose Provokation. Ein Augenzeuge war so entsetzt, dass er versuchte, sich die Kehle durchzuschneiden. Das hinderte die Rebellin nicht, dem Mann lautstark zuzurufen: „Nun schau dir mein Gesicht mit dem Auge deines Herzens an / Und sieh das Antlitz Gottes, befreit von jedem Schleier.“ Sie wurde verhaftet und im Alter von 35 Jahren zum Tode verurteilt. Doch ihre Botschaft wurde von einer anderen Frau im Iran weitergetragen: Forugh Farrochzad. Sie hatte in den 1960er Jahren den Mut, in ihren Gedichten über den eigenen Körper und die eigenen Begierden zu sprechen. Farrochzad, die an den Folgen eines Verkehrsunfalls starb, wurde zur Ikone und ihre Dichtung zum Allgemeingut. Ein weiteres Mal: Widerstand. Kurz vor der Jahrtausendwende richtete in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban eine Gruppe von Frauen und Männern im Keller eines Gebäudes in Herat ein Schneideratelier ein. Sie gaben ihm den Namen Suzan talayi („ Der goldene Fingerhut“), hüllten sich in Burkas, packten Scheren und Schnittmuster und vor allem Schreibhefte und Stifte ein. Draußen vor dem Haus ließen sie ihre Kinder Wache stehen, drinnen trafen sie sich – zum Lesen. Sie lasen Shakespeare und Joyce. Auf den Gedanken gebracht hatten sie die geheimen Tausendundeine Nacht-Lesezirkel, die es im Iran des 19. Jahrhunderts gab. Das Schneideratelier wurde durch eine Bombe zerstört. Die Mitglieder des Lesekreises starben durch die Detonation, nur vier von ihnen überlebten. Eine davon ist die Dichterin Nadia Anjuman (1981–2005), die später von ihrem Ehemann erschlagen wurde. Sie gilt als Alter ego von Forugh Farrochzad (1934–1967), Táhirih (1817–1852), Mahsati (1113–1206) und sehr vielen weiteren Frauen, die bedroht wurden und werden, und natürlich auch von Scheherazade – jener Schwester aller Schwestern, die mit Hilfe von Worten dem Tod entging. Und die uns die Schlüssel des Widerstands in die Hand gegeben hat. Lasst uns ihr lauschen, Nacht für Nacht.

 

*Der französische Ausdruck „ce que femme veut, Dieu le veut“ lässt sich übersetzen mit „was eine Frau will, das will Gott“.

 

Übersetzung aus dem Französischen: Andreas Bredenfeld 

Nahal Tajadod wurde in Teheran geboren und übersiedelte im Alter von 17 Jahren nach Paris. Gemeinsam mit Jean-Claude Carrière übersetzte sie 100 Gedichte von Rumi ins Französische; außerdem veröffentlichte sie Roumi le brûlé, eine Biografie des großen Mystikers, und einen Roman, der auf 36 Erzählungen aus seinem bedeutendsten Werk, dem Masnawi, basiert. Zu ihren weiteren Buchveröffentlichungen zählen Passeport à l’iranienne, Debout sur la terre, Elle joue, Les simples prétextes du bonheur und zuletzt L’Affamé über das Leben von Schams-e Tabrizi, dem spirituellen Mentor Rumis. 

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