Michele Pasotti Musikalische Leitung und Laute
Alena Dantcheva, Francesca Cassinari, Carlotta Colombo Sopran
Michaela Riener Mezzosopran
Elena Carzaniga Alt
Gianluca Ferrarini, Massimo Altieri Tenor
Efix Puleo, Teodoro Baù Fidel
Ermes Giussani, Nathaniel Wood Posaune
Federica Bianchi Clavicymbalum und Orgel
Werke von Johannes Ciconia, Francesco Landini, Guillaume Dufay, John Dunstaple und anderen
Francesco Landini (um 1325–1397)
Sì dolce non sonò col lir’ Orfeo
Solage (fl. um 1380–1400)
Calextone
Codex Faenza (15. Jahrhundert)
Constantia (instrumental)
Johannes Ciconia (1370–1412)
Chi vole amar
Albane, misse celitus / Albane doctor maxime
Doctorum principem / Melodia suavissima
Codex Faenza
Ave Maria stella (Anonymous, Codex Faenza 117)
Johannes Ciconia
Gloria „Spiritus et alme“
Venecie mundi splendor / Michael qui Stena domus
Codex Faenza
Benedicamus Domino (instrumental)
Johannes Ciconia
Gloria
Credo
Petrum Marcello Venetum / O Petre antistes inclite
Guillaume Dufay (1397–1474)
Salve flos Tusciae gentis / Vos nunc Etruscae iubeo / Viri mendaces (1436?)
John Dunstaple (um 1395–1453)
Veni sancte spiritus / Veni creator
Buxheimer Orgelbuch (um 1460)
Con lacrime (instrumental)
Guillaume Dufay
Nuper rosarum flores / Terribilis est locus iste (1436)
Keine Pause
Johannes Ciconias Albane, misse celitus in einer Abschrift aus dem 15. Jahrhundert (© Biblioteca della Musica di Bologna)
The Rise of European Music ist der Titel eines einflussreichen Buches des deutschen Musikwissenschaftlers Reinhard Strohm. Darin beschreibt er die Zeit vom Ende des 14. Jahrhunderts bis zum Beginn des 15. als erste Periode in der Musikgeschichte des Kontinents, in der Komposition und Musikpraxis eine internationale, europäische Dimension erlangten. Der gebürtige Flame Johannes Ciconia war einer der wichtigsten Protagonisten dieser Entwicklung und steht im Mittelpunkt des Programms von La fonte musica.
Essay von Michele Pasotti
Die Geburt der europäischen Musik
Werke von Johannes Ciconia and anderen
Michele Pasotti
The Rise of European Music („Die Geburt der europäischen Musik“) ist der Titel eines einflussreichen Buches des deutschen Musikwissenschaftlers Reinhard Strohm. Darin beschreibt er die Zeit vom Ende des 14. Jahrhunderts bis zum Beginn des 15. als erste Periode in der Musikgeschichte des Kontinents, in der Komposition und Musikpraxis eine internationale, europäische Dimension erlangten.
Der gebürtige Flame Johannes Ciconia war einer der wichtigsten Protagonisten dieser Entwicklung: mit 20 wanderte er als erster bedeutender Komponist Flanderns nach Italien aus und blieb dort bis zu seinem Tod. Er nahm die charakteristischen Elemente der italienischen Ars nova in sein Schaffen auf und verband sie mit dem, was er im Norden Europas gelernt hatte – damit beschritt er einen geografischen wie künstlerischen Weg, auf dem ihm viele große flämische Komponisten, etwa Guillaume Dufay, folgen sollten. Die Musik von Johannes Ciconia steht deshalb mit Mittelpunkt unseres heutigen Programms. Zuvor werfen wir einen kurzen Blick auf italienische und französische Musik vor seiner Zeit; danach schauen wir voraus auf Dufay und den englischen Komponisten John Dunstaple – zwei Väter einer neuen Art des Komponierens, die für den weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts prägend werden sollte.
Französische Wurzeln
Den Anfang macht Francesco Landini, der berühmteste Komponist der italienischen Ars nova. Zu Lebzeiten als „Francesco degli organi“ (Francesco der Orgeln) oder „Francesco Cieco organista di Firenze“ (Der blinde Francesco, Organist von Florenz) bekannt, überragt sein Vermächtnis das seiner italienischen Zeitgenossen bei weitem. Wir haben sein Sì dolce non sonò ausgewählt, weil es eine Hommage an Philippe de Vitry ist, den französischen „Erfinder“ der Ars nova, einer neuen Art des Komponierens und Notierens von Musik an der Wende zum 14. Jahrhundert. Eine gewisse Internationalität ist also bereits hier zu finden.
Das Stück erinnert sowohl textlich als auch musikalisch an einen verwunschenen Wald: jede zweite Verszeile endet mit dem Wort „boschi“ (Wälder) und der Text gleicht einem Dickicht aus verschiedensten mythologischen Anspielungen – ein eng gewobener, komplexer Kontrapunkt, dessen Äste in alle Richtungen zu wuchern scheinen. Erzählt wird von einem Hahn („gallus“, was auch Gallier, also Franzose bedeuten kann), dessen Gesang schöner ist als der von Orpheus, Apoll, Philomena (die Nachtigall) und Amphion zusammen. All diese mythischen Autoritäten werden von einer neuen, unerhörten Art des Singens in den Schatten gestellt, das aus dem Wald kommt: es ist eine „neue Kunst“, und der Hahn ist kein Geringerer als Philippe de Vitry. Diese neue Musik, fließend und stets im Wandel wie die Natur, hat die Macht, die Welt zu erschüttern. Die etwas später entstandene Ballade Calextone des Komponisten Solage mit ihren gewagten „Harmonien“ (eine Kategorie, die damals noch nicht existierte) und eindringlichen Melodien ist ein wunderbares Beispiel für die französische Ausprägung der Ars nova. Sie erzählt von der Nymphe Callisto, die, zunächst in einen Bären verwandelt, von ihrem Liebhaber Zeus bzw. Jupiter als Sternbild Ursa major am Himmel verewigt wurde.
Fusion der Stile
In seinem Schaffen führte Johannes Ciconia die französische und die italienische Schule der Ars nova, die damals die europäische Musikpraxis maßgeblich prägten, zu einer perfekten Synthese zusammen. Heute ist man sich weitestgehend einig, dass er nicht wie lange angenommen 1335, sondern erst 1370 in Liège geboren wurde. Dokumente belegen, dass er 1385 an der dortigen Stiftskirche St. Jean l’Évangéliste tätig war. Die nächste Spur führt nach Rom. In einem Brief von Papst Bonifaz IX. vom April 1391 wird Ciconia als „clericus capelle“ des Kardinals Philippe d’Alençon erwähnt; im Juli desselben Jahres berichtet ein weiterer Brief, das Ciconia nach einer Reise durch Nordeuropa mit dem Kardinal nach Rom zurückgekehrt sei. Möglicherweise stand Ciconia in Verbindung zur päpstlichen Kapelle, da einige Musiker d’Alençons auch dort aktiv waren. Das ist besonders interessant vor dem Hintergrund, dass sich zeitgleich auch Antonio Zacara da Teramo, dessen Kompositionsweise der Ciconias ähnelt, in Rom aufhielt und später zum „magister cappellae“ des Papstes ernannt wurde. Ciconias Zeit in der ewigen Stadt endete vermutlich mit dem Tod d’Alençons im Jahr 1397.
Zu Beginn des neuen Jahrhunderts finden wir Ciconia in Padua wieder. Dort sollte er seine bedeutendsten Kompositionen schreiben. Dokumente aus den Jahren 1401 bis 1409 zeigen, dass er sich mithilfe des Humanisten, Rechtsgelehrten und Erzpriesters von Padua, dem späteren Kardinal Francesco Zabarella, dort als „cantor et custos“ (Sänger und Hüter) der Kathedrale etablieren konnte, was er bis zu seinem Tod blieb. Diese Zeit war mit Abstand die wichtigste und kreativste in seinem Leben. Einige seiner berühmtesten Motetten huldigen Zabarella, etwa Doctorum principem (Fürst der Lehrer), die ihm auch gewidmet ist. Albane, misse celitus richtet sich an Albano Michele, den neuen Bischof von Padua, der ebenfalls als „großer Lehrer“ gefeiert wird. Petrum Marcello Venetum wurde womöglich zur Amtseinführung von Pietro Marcello als Bischof von Padua im November 1409 aufgeführt; Venecie mundi splendor dagegen ist Ausdruck der Ehrerbietung an den Glanz Venedigs und seines Dogen Michele Steno, die vielleicht im Januar 1406 entstand, als Padua offiziell unter venezianische Herrschaft fiel. All diese Motetten und viele weitere Werke Ciconias enthalten musikalische oder textliche Eigenreferenzen, eine Art musikalischer Signatur, die auch Dufay, Busnoys und weitere Komponisten des 15. Jahrhunderts nutzen sollten.
Die Motette war bereits die vorherrschende musikalische Form der früheren französischen Ars nova gewesen, beispielhaft verkörpert in den Werken Philippe de Vitrys. In der weiteren Entwicklung der italienischen Ars nova im 14. Jahrhundert erfuhr die Gattung jedoch eine relativ eigenständige Ausprägung, die dann später von Ciconia aufgenommen und weiter modifiziert wurde. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts war er der bei weitem bedeutendste Motettenkomponist Europas und verlieh diesen Werken, besonders wenn es hochstehende Persönlichkeiten wie Bischöfe, Heilige, Herrscher oder Mäzene zu ehren galt, einen ganz eigenen, festlichen und feierlichen Charakter.
Unser Programm beinhaltet aber auch drei Messsätze Ciconias, von insgesamt sieben Glorias und vier Credos, die ihm heute zugeschrieben werden. Das Gloria aus einer Handschrift in der Biblioteca della Musica di Bologna und das Credo aus der Biblioteka Narodowa in Warschau wurden zweifellos zusammen konzipiert. Das Gloria „Spiritus et alme“ ist ein tropiertes, d.h. um zusätzliche Textabschnitte erweitertes Gloria, das bei Marienfesten weitverbreitet war, bevor es durch das Missale Romanum von 1570 verboten wurde. Ciconias Vertonung ist dreistimmig und wechselt zwischen Duo- und Tutti-Abschnitten. Die Zahl der überlieferten Abschriften deutet darauf hin, dass Ciconias geistliche Werke weit weniger verbreitet waren als seine weltlichen Kompositionen.
Englische Einflüsse
Im Juli 1412 wurde an der Kathedrale von Padua ein neuer Kantor ernannt – „per mortem M. Johannis Ciconie“, nach dem Tod von Johannes Ciconia. Sein Einfluss findet sich in den Werken zahlreicher Komponisten nach ihm, vor allem in den großartigen isorhythmischen Motetten Guillaume Dufays, die ohne Ciconias innovatives Schaffen undenkbar wären. Doch die Musik Dufays und Europas insgesamt hätte eine adere Entwicklung genommen, wenn nicht zur selben Zeit, als Ciconia seine Motetten schrieb, eine weitere große Neuerung von England aus den Kontinent erreicht hätte. John Dunstaple, ein Mathematiker, Astronom und Musiker, ist der wichtigste Vertreter dieser Welle neuer Musik von der Insel.
Musiktheoretiker wie Martin Le Franc in den 1440er Jahren oder später Johannes Tinctoris waren überzeugt, dass englische Komponisten wie John Dunstaple die Urheber einer neuen Art von Musik waren, eines neuen, lieblichen Stils, der sich durch viel „konsonantere“, harmonischere und dreiklangsorientierte Polyphonie auszeichnete. Dieser englische Stil, von Le Franc als „contenance angloise“ bezeichnet, betrachtet die Terz, die bis dahin als dissonant galt, als Konsonanz und nutzt ausgiebig die Faux-bourdon-Technik, was die europäische Musik nachhaltig verändern sollte. Als Beispiel dafür haben wir John Dunstaples grandiose vierstimmige Motette Veni sancte spiritus / Veni creator ausgewählt.
Die nächste Generation
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Guillaume Dufay 1415–17 das Konzil von Konstanz besuchte – so wie die meisten europäischen Musiker, die im Dienst von dort vertretenen Parteien standen. Kurz nach dem Konzil nahm Dufays Karriere eine entscheidende Wendung: er ging nach Italien, um als Musiker für Carlo Malatesta zu arbeiten, der in Konstanz die Delegation von Papst Gregor XII. angeführt hatte. Für die nächsten 20 Jahre blieb Italien Dufays Heimat. Im Juli 1435 kehrte er nach kurzer Unterbrechung in die päpstliche Kapelle zurück, die sich damals im Exil in Florenz befand. Für diese Stadt, oft als Wiege der Renaissance bezeichnet, schrieb er einige der größten Meisterwerke der europäischen Musikgeschichte. Sie sind ein essenzieller Bestandteil der kulturellen Landschaft, die wir mit Florenz verbinden. Hier wirkten Wissenschaft und Kunst zusammen und brachten etwa die perspektivische Darstellung in der Malerei oder die wunderbare Architektur Filippo Brunelleschis für den Dom Santa Maria del Fiore hervor. Dufays Salve flos Tusciae gentis und Nuper rosarum flores bilden das musikalische Pendant zu diesen herausragenden künstlerischen Errungenschaften: Das erste Werk ist eine Hommage an die Florentiner Bevölkerung und ihre Stadt, das zweite wurde für die Weihe von Santa Maria del Fiore am 25. Mai 1436 geschrieben. Beide stehen für eine neue musikalische Vision, die verschiedene Traditionen – von Ciconia und seinen Motetten über die französische Ars nova und Dunstaples „contenance angloise“ bis hin zur flämischen Musik – zusammenführte und damit zur Blaupause für die europäische Renaissance wurde.
Übersetzung aus dem Englischen: Christoph Schaller

Michele Pasotti
Musikalische Leitung und Laute
Michele Pasotti gehört zu den führenden Lautenisten seiner Generation. Er erhielt seine Ausbildung bei Massimo Lonardi, ergänzt durch Meisterkurse bei Hopkinson Smith, Paul O’Dette und Tiziano Bagnati. Weitere Studien zur italienischen Kammermusik des Barock absolvierte er bei Laura Alvini, zur Musiktheorie der Renaissance bei Diego Fratelli sowie zur Theorie und Praxis der Musik des späten Mittelalters bei Kees Boeke und Pedro Memelsdorff. An der Universität von Pavia erwarb er außerdem einen Abschluss in Philosophie. Michele Pasotti unterrichtete an zahlreichen Hochschulen und ist Professor für Laute am Konservatorium von Cesena. Neben seiner Arbeit mit La fonte musica tritt er regelmäßig auch mit anderen namhaften Ensembles für Alte Music auf, darunter Il giardino armonico, I Barocchisti, Les Musiciens du Louvre, das Collegium Vocale Gent, die Akademie für Alte Musik Berlin und das Sheridan Ensemble. Dabei arbeitete er u.a. mit Claudio Abbado, Giovanni Antonini, Philippe Herreweghe, Barthold Kujiken, Diego Fasolis, Andrea Marcon, Monica Huggett, Nathalie Stutzmann und vielen anderen zusammen.
Februar 2024

La fonte musica
Das italienische Ensemble La fonte musica vereint unter der Leitung seines Gründers Michele Pasotti führende Musiker:innen aus dem Bereich der Alten Musik und hat sich auf die Interpretation der europäischen Musik des 14. und frühen 15. Jahrhunderts spezialisiert. Die jahrelange Erfahrung seiner Mitglieder sowie ein detailliertes Studium der überlieferten Quellen wie der kulturellen Umwelt des ausgehenden Mittelalters insgesamt bilden die Grundlage für die Arbeit des Ensembles, das bei den renommiertesten Festivals für Alte Musik in ganz Europa gastiert, darunter Oude Muziek Utrecht, das Ravenna Festival, die Innsbrucker Festwochen der Alten Musik, Laus Polyphoniae Antwerpen, Urbino Musica Antica und das Brighton Early Music Festival. An der Universität von Pavia initiierte La fonte musica ein Symposium über Kunst und Musik im Herrschaftsgebiet der Visconti. Das Ensemble veröffentlichte eine Reihe hochgelobter Aufnahmen, darunter eine Gesamteinspielung der Werke von Antonio Zacara da Teramo, die u.a. mit dem Diapason d’or und dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde. Im Pierre Boulez Saal präsentierten die Musiker:innen zuletzt 2022 das zweiteilige Konzertprojekt „The Colors of Ars Nova“.
Februar 2024