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New Music & The Public
Eine Konversation zwischen Michel Foucault & Pierre Boulez
Marion Kalter, Jerry Bauer / Suhrkamp Verlag
New Music and the Public (1983)
Michel Foucault:
Es heißt des Öfteren, die zeitgenössische Musik sei „abgedriftet“; sie sei zu etwas Einzigartigem geworden; sie habe einen Grad an Komplexität erreicht, der sie unzugänglich mache; ihre Techniken habe sie auf Wege mitgerissen, die sie immer mehr ins Abseits führen. Was mir dagegen auffällig erscheint, ist die Mannigfaltigkeit der Verbindungen und der Bezüge zwischen der Musik und allen weiteren Elementen der Kultur. Dies wird auf mehrere Weisen deutlich. Zum einen ist die Musik viel empfänglicher für die technologischen Transformationen, viel enger mit ihnen verbunden gewesen als die Mehrzahl der anderen Künste (mit Ausnahme natürlich des Kinos). Zum anderen weist ihre Entwicklung seit Debussy oder Strawinsky bemerkenswerte Korrelationen zur Entwicklung der Malerei auf. Und weiter gehören die theoretischen Probleme, die die Musik sich selbst gestellt hat, und die Art und Weise, wie sie auf ihre Sprache, ihre Strukturen und ihr Material reflektiert hat, zu einer Frage, die, glaube ich, das gesamte 20. Jahrhundert durchzogen hat: die Frage nach der „Form“, die die Frage Cézannes oder der Kubisten war, die Frage Schönbergs und auch die Frage der russischen Formalisten und der Prager Schule.
Ich glaube nicht, dass man sich die Frage stellen sollte: Wie kann man die Musik, da sie eine solche Distanz aufgebaut hat, wieder einfangen oder zurückbringen? Sondern eher: Wie kommt es, dass wir sie, die unserer ganzen Kultur so nahe, so sehr von gleicher Substanz ist wie sie, gleichsam in die Ferne projiziert und in eine fast unüberwindliche Distanz versetzt empfinden?
Pierre Boulez:
Ist der „Kreis“ der zeitgenössischen Musik so verschieden von den diversen Kreisen, die symphonische, Kammer-, Opern- und Barockmusik nutzen, all den solchermaßen durch Trennwände abgeteilten, spezialisierten Kreisen, dass man sich fragen muss, ob es wirklich eine allgemeine Kultur gibt? Eigentlich sollte die durch die Schallplatte verbreitete Kenntnis diese Trennwände, deren ökonomische Notwendigkeit man verstehen kann, zu Fall bringen, doch stellt man nun im Gegenteil fest, dass die Schallplatte die Spezialisierung des Publikums genauso verstärkt wie die der Interpreten. Selbst in der Organisation von Konzerten oder Vorstellungen schließen die Kräfte, auf die sich unterschiedliche Arten von Musik berufen, eine gemeinsame Organisation, ja sogar eine Polyvalenz mehr oder weniger aus. Wer klassisches oder romantisches Repertoire sagt, impliziert ein standardisiertes Gebilde, das die Tendenz hat, die Ausnahmen von dieser Regel nur dann einzubeziehen, wenn die Ökonomie des Ganzen dadurch nicht gestört wird. Wer Barockmusik sagt, impliziert zwingend nicht nur eine begrenzte Gruppe, sondern Instrumente, die auf die gespielte Musik abgestimmt sind, und Musiker, die auf der Grundlage von Textstudien und theoretischen Arbeiten über die Vergangenheit eine spezialisierte Kenntnis in Sachen Interpretation erworben haben. Wer zeitgenössische Musik sagt, impliziert die Annäherung an neue Instrumentaltechniken, neue Notenschriften und eine Fähigkeit, sich als Interpret auf neue Situationen einzustellen. Man könnte diese Auflistung fortführen und so die Schwierigkeiten zeigen, die man überwinden muss, um von einem Bereich zum anderen zu gelangen: Schwierigkeiten der Organisation, Schwierigkeiten des persönlichen Hineinfindens, ohne von der Anpassung der Örtlichkeiten an diese oder jene Art Aufführung zu sprechen. So besteht eine Neigung zu der Ansicht, dass sich entsprechend zu jeder Kategorie Musik eine mehr oder weniger große Gesellschaft bildet und sich zwischen dieser Gesellschaft, ihrer Musik und ihren Interpreten ein auf gefährliche Weise geschlossener Kreis herstellt. Die zeitgenössische Musik kann sich dieser Bedingungslage nicht entziehen; selbst wenn ihre Besucherzahlen verhältnismaßig niedrig sind, kann auch sie den Misslichkeiten der musikalischen Gesellschaft im Allgemeinen nicht entgehen: Auch sie hat ihre Orte, ihre Treffpunkte, ihre Stars, ihre Snobismen, ihre Rivalitäten und ihre Exklusivitäten; genauso wie die andere Gesellschaft hat sie ihre Börsenwerte, ihre Kursnotierungen und ihre Statistiken. Die verschiedenen Kreise der Musik sind, auch wenn sie nicht Dante unterstehen, nicht minder bezeichnend für ein Kerkersystem, in welchem die Mehrzahl sich gut fühlt und bei dem einige hingegen auf peinigende Weise den Zwang verspüren.
There exists a tendency to form a larger or smaller society
corresponding to each category of music, to establish a dangerously closed circuit among this society, its music, and its performers.
Pierre Boulez
M. F.
Man muss der Tatsache Rechnung tragen, dass über eine sehr lange Zeit hinweg die Musik mit gesellschaftlichen Riten verbunden war und von ihnen vereinheitlicht wurde: religiöse Musik, Kammermusik; im 19. Jahrhundert war die Verbindung zwischen der Musik und der theatralischen Darstellung in der Oper (ohne gar von den politischen oder kulturellen Bedeutungen zu sprechen, die diese in Deutschland oder in Italien annehmen konnte) ebenfalls ein Integrationsfaktor.
Ich glaube, dass man nicht von der „kulturellen Isolierung“ der zeitgenössischen Musik sprechen kann, ohne nicht sogleich das darüber Gesagte mit Blick auf die anderen Kreise der Musik zu berichtigen.
Mit der Rockmusik zum Beispiel hat man ein völlig gegenteiliges Phänomen. Nicht nur ist diese (viel mehr noch als einst der Jazz) integrierender Bestandteil des Lebens vieler Leute, sondern sie bringt auch selbst Kultur hervor: Rock mögen, irgendeine Art von Rockmusik mehr mögen als eine andere ist auch eine Lebensweise, eine Art zu reagieren; es ist ein ganzes Ensemble von geschmacklichen Vorlieben und Einstellungen.
Rockmusik bietet die Möglichkeit zu einer intensiven, starken, lebendigen und „dramatischen“ Beziehung (in dem Sinne, dass sie sich selbst als Schauspiel ausgibt, dass das Zuhören ein Ereignis darstellt und sich inszeniert) zu einer Musik, die in sich selbst dürftig ist, aber durch die der Zuhörer sich bejaht; und ansonsten hat man eine schwache, kühle, ferne und problematische Beziehung zu einer Kunstmusik, von der sich das kultivierte Publikum ausgeschlossen fühlt.
Man kann nicht von einer Beziehung der zeitgenössischen Kultur zur Musik sprechen, sondern von einer mehr oder weniger wohlwollenden Duldung in Anbetracht einer Vielheit von Musiken. Jeder räumt man ein „Recht“ auf Existenz ein; und dieses Recht wird als eine Wertgleichheit wahrgenommen. Jede ist so viel wert wie die Gruppe, die sie praktiziert oder sie anerkennt.
P. B.
Wird man das Problem lösen, indem man von Musiken spricht und eine eklektische Ökumene propagiert? Es scheint allerdings im Gegenteil so zu sein, dass man das Problem eskamotiert – in Übereinstimmung mit den Statthaltern der fortgeschrittenen liberalen Gesellschaft. Sämtliche Musikformen sind gut, sämtliche Musikformen sind schön. Ach, Pluralismus, so etwas taugt doch nicht als Heilmittel gegen das Nichtverstehen! Lieben Sie also, jeder in seiner Ecke, und Sie werden einander lieben. Seien Sie liberal, seien Sie generös zu den geschmacklichen Vorlieben der anderen, und es wird den ihren genauso ergehen. Alles ist gut, nichts ist schlecht; es gibt keine Werte, sondern es gibt die Lust. Dieser Diskurs, so befreiend er sein will, verstärkt im Gegenteil die Ghettos, stärkt das gute Gewissen, sich in einem Ghetto zu befinden, vor allem, wenn man von Zeit zu Zeit loszieht und als Voyeur die Ghettos der anderen erkundet. Die Ökonomie ist dazu da, es uns für den Fall in Erinnerung zu rufen, dass wir uns in dieser faden Utopie verlieren; es gibt Musiken, die etwas einbringen und die um des kommerziellen Profites willen existieren; es gibt Musiken, die Geld kosten, bei denen bereits das Projekt nichts mit Profit zu tun hat. Kein Liberalismus wird diesen Unterschied auslöschen.
M. F.
Ich habe den Eindruck, dass viele Elemente, deren Bestimmung es ist, Zugang zur Musik zu verschaffen, effektiv die Beziehung verarmen, die man zu ihr hat. Es gibt einen quantitativen Mechanismus, der funktioniert. Eine gewisse Knappheit der Beziehung zur Musik könnte eine innere Bereitschaft des Hörens und gleichsam eine Anpassungsfähigkeit des Zuhörens bewahren. Je häufiger jedoch diese Beziehung ist (Radio, Schallplatten, Kassetten), desto mehr Vertrautheiten werden geschaffen und desto mehr Gewohnheiten bilden sich; das Häufigste wird zum Annehmbarsten und bald zu dem, was einzig angenommen wird. Es stellt sich eine „Bahnung“ her, wie die Neurologen sagen würden.
Offensichtlich kommen die Gesetze des Marktes bei diesem simplen Mechanismus ungehindert zur Anwendung. Das, was man dem Publikum zur Verfügung stellt, ist das, was es hört. Und das, was es de facto zu hören bekommt, weil man es ihm eben vorsetzt, verstärkt einen bestimmten Geschmack, höhlt die Grenzen einer klar bestimmten Fähigkeit zuzuhören aus und umgrenzt mehr und mehr ein Hörschema. Man wird diese Erwartung halt befriedigen müssen, usw. So drohen die kommerzielle Produktion, die Kritik, die Konzerte und alles das, was den Kontakt des Publikums zur Musik vermehrt, die Wahrnehmung des Neuen immer mehr zu erschweren.
Selbstverständlich ist dieser Prozess nicht eindeutig. Und es ist auch gewiss, dass die wachsende Vertrautheit mit der Musik die Fähigkeit zu hören erweitert und Zugang zu möglichen Differenzierungen gibt, doch läuft dieses Phänomen Gefahr, nur am Rande zustande zu kommen; es kann jedenfalls sekundär bleiben gegenüber der großen Bestärkung des Erworbenen, wenn nicht überhaupt ein Bemühen da ist, die Vertrautheiten aus der Spur zu bringen.
Ich bin selbstverständlich nicht für eine Verknappung der Beziehung zur Musik, aber man muss schon verstehen, dass die Alltäglichkeit dieser Beziehung mit all den ökonomischen Interessen, die damit verbunden sind, den paradoxen Effekt haben kann, die Tradition zu verhärten. Man muss nicht den Zugang zur Musik seltener machen, aber den ständigen Umgang mit ihr weniger den Gewohnheiten und den Vertrautheiten überlassen.
P. B.
Wir haben wohl nicht nur eine Polarisierung hinsichtlich der Vergangenheit zu beachten, sondern eben auch eine Polarisierung hinsichtlich der Vergangenheit in der Vergangenheit, was den Interpreten betrifft. Und entsprechend gerät man natürlich in Ekstase, wenn man die Interpretation irgendeines klassischen Werkes durch einen seit Jahrzehnten verschwundenen Interpreten hört; doch wird die Ekstase die Gipfel des Orgasmus erreichen, sobald man auf die Interpretation vom 20. Juli 1947 oder vom 30. Dezember 1938 Bezug nehmen kann. Man sieht, wie sich eine Pseudokultur des Dokuments abzeichnet, gegründet auf die vorzügliche Stunde und auf den verstrichenen Augenblick, der uns gleichzeitig die Hinfälligkeit und die Ewigkeit des unsterblich gewordenen Interpreten in Erinnerung ruft, der folglich mit der Unsterblichkeit des Meisterwerks rivalisiert. Die ganzen Mysterien um das Schweistuch von Turin, die ganzen Mächte der modernen Zauberei, was möchten Sie mehr als Alibi für die Reproduktion im Verhältnis zur aktuellen Produktion? Die Moderne ist diese technische Überlegenheit, die wir gegenüber den früheren Jahrhunderten besitzen, das Ereignis neu erschaffen zu können. Ach! Wenn wir doch die Erstaufführung der Neunten haben könnten, selbst – ja vor allem – mit all ihren Fehlern, oder wenn wir den köstlichen Unterschied zwischen der Prager Fassung und der Wiener Fassung des Don Giovanni durch Mozart selbst erfahren könnten … Dieser historisierende Panzer erstickt diejenigen, die ihn sich anziehen, drückt sie in einer Luft abschnürenden Erstarrung zusammen; die verbrauchte Luft, die sie atmen, schwächt ihren Organismus auf alle Zeiten im Verhältnis zum aktuellen Geschehen. Ich stelle mir den verwunschenen Fidelio vor, wie er in seinem Turm bleibt, oder ich denke auch an die Höhle Platons: eine Zivilisation des Dunkels und der Schatten.
M. F.
Mit Sicherheit wird das Hören der Musik in dem Maße schwieriger, wie ihre Schrift sich von allem löst, was Schemata, Signale und wahrnehmbare Verortung einer repetitiven Struktur sein kann.
In der klassischen Musik gibt es eine gewisse Transparenz der Schrift für das Hören. Und obwohl so manches an der musikalischen Schrift bei Bach oder Beethoven für die Mehrzahl der Hörer nicht erkennbar ist, gibt es immer noch anderes und Bedeutendes, das ihnen zugänglich ist. Die zeitgenössische Musik indes macht, indem sie versucht, aus jedem ihrer Elemente ein einzigartiges Ereignis zu machen, jedes Erfassen oder jedes Erkennen durch den Hörer schwierig.
P. B.
Ist da wirklich nur Nichtbeachtung, Gleichgültigkeit von Seiten des Hörers gegenüber der zeitgenössischen Musik? Sollten die Beschwerden, die man so häufig hört, nur der Faulheit, der Trägheit und dem Glück geschuldet sein, dass man auf bekanntem Terrain bleibt? Berg schrieb, es ist bereits ein halbes Jahrhundert her, einen Text mit dem Titel Warum ist Schönbergs Musik so schwer verstandlich? Die Schwierigkeiten, die er damals beschrieb, sind fast genau dieselben wie diejenigen, von denen in unseren Tagen die Rede ist. Sollte es immer so gewesen sein? Wahrscheinlich stößt jede Neuheit auf eine Sensibilität, die mit ihr nicht vertraut ist. Doch ist anzunehmen, dass in unseren Tagen die Kommunikation zwischen Werk und Publikum sehr spezifische Schwierigkeiten aufweist. In der klassischen und der romantischen Musik, der Hauptquelle des vertrauten Repertoires, gibt es Schemata, denen man gehorcht, denen man unabhängig vom Werk selbst folgen kann, oder vielmehr, die darzustellen das Werk verpflichtet ist. Die Sätze einer Symphonie sind in ihrer Form und in ihrem Charakter, ja sogar in ihrem Rhythmus festgelegt; sie sind verschieden voneinander, die meiste Zeit in der Tat durch einen Bruch getrennt, mitunter durch einen Übergang verbunden, den man wahrnehmen kann. Das Vokabular selbst beruht auf „klassifizierten“ Akkorden, den gutgeheißenen: Sie brauchen sie nicht zu analysieren, um zu wissen, was sie sind und welche Funktion sie haben, sie haben die Wirksamkeit und die Sicherheit von Signalen; sie lassen sich von einem Stück zum anderen wiederfinden, indem sie stets dieselbe Erscheinung an- und dieselben Funktionen übernehmen. Nach und nach sind diese beruhigenden Elemente aus der „ernsten“ Musik verschwunden; die Entwicklung ist in die Richtung einer immer radikaleren Erneuerung ebenso sehr in der Form der Werke wie in ihrer Sprache gegangen. Die Werke wurden mehr und mehr zu singulären Ereignissen, die gewiss ihre Vorläufer haben, die sich aber nicht auf irgendein a priori von allen anerkanntes Leitschema zurückführen lassen, was gewiss ein Handicap für das unmittelbare Verstehen darstellt. Es wird dem Zuhörer abverlangt, sich mit dem Gang des Werkes vertraut zu machen, und dafür muss er es einige Male hören; hat man sich mit dem Gang vertraut gemacht, können sich das Verstehen des Werkes und die Wahrnehmung dessen, was es ausdrücken will, auf geeignetem Terrain entfalten. Die Chancen werden immer geringer, dass sich bereits bei der ersten Begegnung Wahrnehmung und Verstehen erhellen. Es kann spontane Zustimmung geben, aufgrund der Kraft der Botschaft, der Qualität der Schrift, der klanglichen Schönheit und der Lesbarkeit der Merkmale, aber das tiefe Verstehen kann nur aus der Wiederholung der Lektüre, aus dem Nachvollzug des Gangs herrühren, und diese Wiederholung nimmt so den Platz des akzeptierten Schemas ein, so wie es früher praktiziert wurde.
Die aus der so genannten ernsten Musik (einst nannte man sie „Kunstmusik“) entfernten Schemata – von Vokabular und Form – haben sich in bestimmte populäre Formen, in die Objekte des musikalischen Konsums geflüchtet. Dort wird noch nach Gattungen und nach anerkannten Typologien komponiert. Der Konservativismus findet sich nicht zwangsläufig da, wo man ihn erwartet; es ist unbestreitbar, dass ein gewisser Form- und Sprachkonservativismus sämtlichen kommerziellen Produktionen zugrunde liegt, die mit großem Enthusiasmus von Generationen aufgenommen werden, die nichts weniger sein möchten als konservativ. Es ist ein Paradox unserer Zeit, dass der gespielte oder gesungene Protest in einer Form übermittelt wird, die überaus einfach zu vereinnahmen ist, was dann auch geschieht; der kommerzielle Erfolg treibt den Protest aus.
M. F.
Und was diesen Punkt angeht, gibt es vielleicht eine divergente Entwicklung von Musik und Malerei im 20. Jahrhundert. Die Malerei hatte seit Cézanne die Neigung, sich durchscheinend für den Akt des Malens selbst zu machen; dieser wurde entweder durch den Gebrauch elementarer Zeichen oder durch die Spuren seiner eigenen Dynamik im Bild sichtbar, nachdrücklich und endgültig gegenwärtig gemacht. Die zeitgenössische Musik bietet dagegen dem Hören nur die Außenseite ihrer Schrift an.
Daher kommt dies irgendwie Schwierige und Gebieterische beim Hören dieser Musik. Daher rührt die Tatsache, dass jedes Hören sich als ein Ereignis darstellt, bei dem der Hörer zugegen ist und das er akzeptieren muss. Er hat nicht die Orientierungsmarken, die es ihm erlauben, es zu erwarten und zu erkennen. Er hört, wie es zustande kommt. Und das ist eine sehr schwierige Weise von Aufmerksamkeit, die im Widerspruch steht zu den Vertrautheiten, die das wiederholte Hören der klassischen Musik webt.
Die kulturelle Insellage der Musik von heute ist nicht einfach die Konsequenz einer Pädagogik oder einer mangelhaften Information. Es wäre zu einfach, über die Konservatorien zu stöhnen oder sich über die Schallplattenverlage zu beklagen. Die Dinge sind ernster. Diese einzigartige Situation verdankt die zeitgenössische Musik ihrer Schrift [écriture] selbst. In diesem Sinne ist sie gewollt. Es ist keine Musik, die vertraut sein möchte; das Schroffe an ihr soll gewahrt bleiben. Man kann sie zwar wiederholen; sie aber wiederholt sich nicht. In diesem Sinne kann man darauf nicht wie auf ein Objekt zurückkommen. Ihr Hereinbrechen geschieht stets an Grenzen.
P. B.
Ist die zeitgenössische Musik, da sie sich so als ewiger Entdeckungssituation versteht – neue Bereiche der Sensibilität, das Experimentieren mit neuen Materialien –, dazu verurteilt, ein Kamtschatka zu bleiben (Baudelaire, Sainte-Beuve, erinnern Sie sich?), der furchtlosen Neugier rarer Forschernaturen vorbehalten? Bemerkenswert ist, dass die zurückhaltendsten Hörer diejenigen sind, die ihre musikalische Kultur ausschließlich in den Kaufhäusern der Vergangenheit, ja einer bestimmten Vergangenheit, erworben haben, und dass als die offensten – einfach nur, weil sie unwissender sind? – sich die Hörer erweisen, die ein nachhaltiges Interesse anderen Ausdrucksmitteln gegenüber zeigen: insbesondere den plastischen Künsten. Sind die „Fremden“ aufnahmebereiter? Eine gefährliche Zustimmung, die darauf abzielen würde zu beweisen, dass die aktuelle Musik sich von der „wahren“ musikalischen Kultur ablösen würde, um einem weiteren und vageren Bereich anzugehören, in dem bei der Beurteilung wie der Machart der Dilettantismus maßgeblich wäre. Nennen Sie das bloß nicht mehr „Musik“, natürlich wollen wir Ihnen Ihr Spielzeug lassen; dafür ist eine andere Wertung zuständig, die nichts mit derjenigen zu tun hat, die wir der wahren Musik, der Musik der Meister, Vorbehalten. Dieses Argument ist gebracht worden, und es kommt in seiner arroganten Naivität einer unbestreitbaren Wahrheit nahe. Das Urteil und der Geschmack sind Gefangene von Kategorien, von prästabilierten Schemata, an die man sich hält, koste es, was es wolle. Nicht, wie man es uns glauben machen wollte, dass die Unterscheidung zwischen einer Aristokratie der Gefühle, einer Noblesse des Ausdrucks und einem auf einer experimentellen Basis beruhenden kühnen Künstlertum zu finden wäre: Denken gegen Werkzeug. Es handelt sich vielmehr um ein Hören, das man nicht modulieren oder an verschiedene Weisen, die Musik zu erfinden, anpassen könnte. Ich werde gewiss keine Fürsprache für die Ökumene der Musikformen halten, die mir geradezu eine Ästhetik des Supermarkts und eine Demagogie zu sein scheint, die nicht wagt, ihren Namen zu nennen, und sich mit guten Absichten schmückt, um so besser das Elend ihrer Kompromisse zu verdecken. Ich weise auch nicht die Forderung nach Qualität im Ton wie in der Komposition zurück: Aggressivität und Provokation, Bastelei und das den Leuten in die Augen gestreute Puder sind nur magere und einfältige Palliative; ich weiß ganz und gar – aus vielfältigen Erfahrungen, wie sie zudem direkter nicht sein können –, dass jenseits einer bestimmten Komplexität sich die Wahrnehmung orientierungslos in einem unentwirrbaren Chaos wiederfindet und sie dessen überdrüssig wird und aufgibt. Belassen wir es dabei, dass ich mir kritische Reaktionen bewahren kann und meine Zustimmung nicht automatisch Folge der Tatsache der „Zeitgenossenschaft“ selbst ist. Bestimmte Modulationen des Hörens kommen bereits, ziemlich mühsam im Übrigen, jenseits bestimmter historischer Abgrenzungen zustande. Man hört die Barockmusik – vor allem die aus dem zweiten Regal – nicht so, wie man Wagner oder Strauss hört; man hört die Polyphonie der Ars Nova nicht, wie man Debussy oder Ravel hört. Doch wie viele Zuhörer sind in diesem letzten Fall bereit, ihre „Seinsweise“, musikalisch gesprochen, zu variieren? Und dennoch genügt zur möglichen geistigen Erfassung der musikalischen Kultur, der ganzen musikalischen Kultur diese Anpassung an die Kriterien und die Konventionen, denen sich die Erfindung je nach dem Zeitpunkt der Geschichte, in der sie ihren Platz hat, unterwirft. Dieser weite Atem von Jahrhunderten steht im äußersten Gegensatz zu den asthmatischen Hüsteleien, die uns die Fanatiker phantomhafter Reflexe der Vergangenheit in einem trüben Spiegel zu Gehör bringen. Eine Kultur bildet sich, setzt sich fort und übertragt sich in einem Abenteuer mit zwei Gesichtern: mal ist es die Brutalität, die Bestreitung, der Tumult; mal die Meditation, die Gewaltlosigkeit, das Schweigen. Welche Form das Abenteuer auch annimmt – das überraschendste ist nicht immer das lauteste, aber das lauteste ist nicht unbedingt das oberflächlichste –, es ist vergeblich, es zu ignorieren, und noch vergeblicher, es mit Beschlag zu belegen. Man dürfte gerade eben noch behaupten können, dass es wahrscheinlich Perioden in der Spitze gibt, in denen die Koinzidenz mühsamer zustande kommt, in denen dieser Aspekt der Erfindung absolut aus dem herauszustechen scheint, was man tolerieren oder „vernünftig“ absorbieren kann, und dass es andere Perioden gibt, in denen Wirkungen zustande kommen, die von einer unmittelbar zugänglicheren Art sind. Die Beziehungen zwischen all diesen – individuellen, kollektiven – Phänomenen sind so komplex, dass es unmöglich ist, auf sie Parallelisierungen oder strenge Gruppenbildungen anzuwenden. Man wäre eher versucht zu sagen: Meine Herren, machen Sie Ihr Spiel und verlassen Sie sich für alles Weitere auf den „Zeitgeist“! Doch um Gottes willen, spielen Sie, spielen Sie! Ansonsten: welch unendliche Absonderung von Langeweile!
Aus Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits Bd. IV (1980–1988), aus dem Französischen von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, S. 594–604.
1. [Alban Berg, „Warum ist Schönbergs Musik so schwer verstandlich?“, in Arnold Schönberg zum 30. Geburtstage. Sonderhefte der Musikblätter des Anbruch, 6. Jg., August–September 1924, S. 329–341.]
2. [Sainte-Beuve hatte anlässlich des Erscheinens der Poèmes en prose von Baudelaire 1862 als „äußerste Spitze des romantischen Kamtschatka [...] den Wahnsinn Baudelaire“ bezeichnet; Artikel vom 20. Januar 1863, in Le Constitutionnel. A.d.Ü.]